Was ist Zyndstoff?
Zyndstoff richtet sich an interessierte Linzerinnen und Oberösterreicher
sowie an Protagonisten aus kreativen Berufen. Wir möchten über die Zukunft
von Arbeit, von Industrie, von Kreativwirtschaft diskutieren. Und wir möchten
kontroversielle Beiträge mit inhaltlichem Zündstoff bieten.
In der Reibung entstehen die besten Ideen. Das ist unser Beitrag.
Bitte runterscrollen!
Die zyndende Idee
Was können wir tun, damit der technische Fortschritt
der Gesellschaft nützt und nicht schadet?
Wir suchen nach Ideen, nach Impulsen, nach Innovationen,
die sich mit der Zukunft von Arbeitsmarkt und Industrie befassen.
Die beste Idee dieses internationalen Calls unter der Patenschaft
von Saskia Sassen wird von einer Jury ausgewählt. Der Gewinner
bzw. die Gewinnerin erhält ein mietfreies Büro in der
Tabakfabrik Linz – und zwar auf Lebenszeit.
Neugierig geworden? Mehr dazu am Ende der Zyndschnur.
Die Tabakfabrik ist ein Hotspot der Kreativwirtschaft.
Was liegt daher näher, als den hier Arbeitenden und den
hier Vorbeigehenden ihre beste Eingebung zu entlocken?
Fotograf Florian Voggeneder hat sich
auf die Suche nach Antworten begeben.
Was war deine beste Idee?
Cecile (35), Software-Entwicklerin „Mehr Bänke und Sitzgelegenheiten für den Hof der Tabakfabrik, wenn die Sonne scheint.“
Antonio (22) Grafikdesigner, und Dragos (32), Tourismusberater „Es sollte ein Gesetz geben, das dir verbietet, finster dreinzublicken. Wenn dich jemand anschaut, sollte es Vorschrift sein, zurückzulächeln. Das wäre ein schönes Vorbild für unsere Kinder. So könnten wir sicherstellen, dass nicht die Traurigkeit von Generation zu Generation weitergegeben wird, sondern die Fröhlichkeit.“
Christoph (45), Architekt „Davon gibt es viele! Zum Beispiel die hier: immer in Bewegung bleiben!“
Steffi (23), Tischlerin „Letztes Jahr bin ich mit einem Freund spontan auf Urlaub gefahren, nach Italien, Frankreich, Spanien. Und zwar mit einem Lkw! Ich hab echt viel gesehen, und das, ohne dass ich auch nur einen einzigen Cent für Sprit und Maut zahlen musste. Wir sind sogar bis nach Granada gekommen.“
Madeleine (28), Designerin und Projektmanagerin „Die Preiselbeermarmelade gleich aufs Schnitzel draufstreichen, damit man das Schnitzel nicht jedes Mal in die Preiselbeermarmelade eintunken muss.“
Franzi (24), Tischlerin und künftige Gastronomin „Meine beste Idee der letzten zehn Jahre war, dass ich mit 14 von Gmunden nach Linz gezogen bin, weil ich was Neues sehen wollte. Wenn ich das nicht gemacht hätte, dann wäre ich nie drauf gekommen, dass ich das Gasthaus meiner Eltern übernehmen möchte.“
Mohammed (35), Elektriker, und Hanin (41), Lüftungstechniker „Unsere Ideen: Frieden, zusammenkommen, miteinander auskommen, in einem Verein arbeiten, am besten mit Jugendlichen, etwas verändern. Wir sind Brüder.“
Luise (12), Schülerin „Falls irgendein Monster einmal die Tabakfabrik überfällt, sollten sich alle zusammentun und aus den alten Sachen – aus alten Rollen, Paletten, Staubsaugern und Automotoren – einen riesigen Monstersaugstauber bauen.“
Jenny (21), Tischlerin „Meine beste Idee war, dass ich mit dem Skateboard-Fahren angefangen habe. Meine zweitbeste Idee ist, dass ich die Meisterprüfung machen werde!“
Monika (68), Handelsangestellte in Altersteilzeit „Meine beste Idee war es, im Herzen jung zu bleiben.“
David (19), Zivildiener „Früher war ich ungesund unterwegs. Ich hätte fast Diabetes bekommen. Meine beste Idee war, dass ich zu sporteln begonnen habe.“
Thomas (27), Web-Developer „Meine beste Idee war, dass ich mit dem Tennisspielen angefangen habe.“
Pro & Contra
Work-Life Balance
mit Jazz Gitti und Thomas Vašek
Pro
Jazz Gitti
Mein Leben ist klar eingeteilt: acht Stunden arbeiten, acht Stunden leben, acht Stunden schlafen. Das braucht die Gitti, um im Lot zu sein. Es gab Zeiten, damals beim Jazz-Freddy, da hab ich auch 16 Stunden pro Tag gearbeitet, ich hab g’hackelt wie ein Narr. Das waren zwar die wahrscheinlich lustigsten Jahre meines Lebens, aber ich bin dort mitten in ein Burn-out hineingeschlittert. Das war nix für mich. Das hält ja keine Sau auf Dauer aus. Nie wieder!
Die Gitti ist schlau geworden, und heute weiß sie ganz genau, was sie braucht, um wieder auf Zack zu kommen. Ich setz mich in ein Café, kauf mir ein Eis, schau den Leuten beim Leben zu, ich fahr in den Baumarkt, setz an Zwiewl in d’ Erd, ich leg mich auf die Couch, schalt die Glotze ein, leg mich pudelnackert ins Bett, lass mir eine heiße Badewanne ein und starr an die Decke. Bloß nix umadumhirnen! Alle drei Wochen geh ich ins Schönheitsstudio, dann leg ich mich hin und schlaf der Kosmetikerin unter ihren Fingern weg, während sie in meinem Gesicht herumfuhrwerkelt. Das ist der beste Baldrian überhaupt!
Wenn ich all das befolge, dann geh ich am Abend auf die Bühne und geb Vollgas. Ich lass die Rampensau in mir aussi. Mein Talent ist, dass ich Menschen unterhalten kann. Zumindest glauben das alle. In Wahrheit aber sind es die Menschen, die mich unterhalten. Was heißt unterhalten! Sie tanken mich auf! Wobei ich dazusagen muss, dass ich ein verdammtes Glück hab, so ein geiles Hobby als Job zu haben. Wenn ich in einer Fabrik arbeiten würde, wo ich mir jeden Tag in der Früh denke „So ein Scheiß!“, dann wäre die Balance nicht ganz so einfach. Dann müsste ich Yoga machen oder so was.
Nächstes Jahr werd ich 70, aber ich fühl mich wie 45. Und ich kann sagen: Ich hab’s mir reingezogen. Ich hab nix ausgelassen. Ich hab gelebt. Es gibt Menschen, die müssen in 80 Tagen um die Welt gefahren sein, um sich zu spüren, mit einem langen Zwischenstopp in Indien, um sich dort zu finden. Ich hab mich in Leobendorf auch gefunden.
Vor drei Jahren war ich körperlich total am Tiefpunkt und hab mir gedacht, ich komm nie wieder auf d’ Fiaß. Ich hatte unglaubliche Schmerzen. Ich hab das alles ewig lang hinausgezögert, doch irgendwann hat’s mir g’reicht. Heute renne ich mit zwei neuen Knien durch die Gegend und kann endlich wieder in vollen Zügen mein Leben genießen. Umso wichtiger ist es mir, nimmer so deppat zu sein wie früher. Heute findet mein Halligalli mit ein bissl mehr Kontrolle statt. Meine Arbeit macht mir Spaß. Ohne eine Arbeit möchte ich nicht sein. Aber immer nur lustig sein geht auch nicht. Acht Stunden am Tag gehören der Gitti ganz allein.
Jazz Gitti, eigentlich Martha Butbul, wurde 1946 in Wien geboren. Seit Ende der Siebzigerjahre ist sie als Sängerin und Entertainerin tätig. 1990 erschien ihr erstes Album A Wunda. 1991 bekam sie den World Music Award. Zuletzt erschien ihr Buch Ich hab gelebt. Erinnerungen (Kremayr & Scheriau).
Contra
Thomas Vašek
Die Idee der „Work-Life-Balance“ beruht auf einem Denkfehler. Es liegt ihr die Vorstellung zugrunde, dass es zwei verschiedene Welten gibt, zwischen denen wir trennen müssen – eine Welt der lästigen Notwendigkeit und eine Welt der Freiheit. In der einen Welt mühen wir uns sinnlos ab, in der anderen verwirklichen wir uns selbst. Doch das ist Unsinn. Die Arbeit gehört zu unserem Leben. Und sie ist mehr als nur eine leidige Pflicht, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein Leben ohne Arbeit ist nichts, was wir uns wünschen sollten.
Ich halte es für falsch, zu glauben, dass uns Freizeit glücklicher macht als Arbeit. Freizeit ist kein Wert an sich – denn es kommt darauf an, was man aus ihr macht. Oft verschwenden wir unsere Freizeit mit sinnlosen Dingen. Das gute, das wahre Leben beginnt nicht erst nach Feierabend. Was wir brauchen, das ist nicht mehr Freizeit, sondern gute Arbeit, die uns bereichert und erfüllt. Das beste Mittel gegen Burn-out heißt also nicht Work-Life-Balance, sondern gute Arbeit. Darunter verstehe ich Arbeit, die Sinn stiftet und innere Werte vermittelt. Arbeit, die es Menschen ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Schlechte, sinnlose Arbeit wird nicht besser durch eine bessere Work-Life-Balance, denn sie bleibt, wie man sie dreht und wendet, Zeit- und Lebensverschwendung.
Es geht also nicht darum, zwischen Arbeit und anderen Teilen des Lebens zu trennen, sondern darum, beides miteinander zu verbinden. Immer mehr Unternehmen verabschieden sich heute vom traditionellen Arbeitszeitmodell mit festen Anwesenheitszeiten. Der typische Nine-to-five-Job ist Vergangenheit. Home-Office und andere flexible Modelle bieten heute Chancen, den Job besser ins Leben zu integrieren. Auch außerhalb der Arbeit unterliegen wir ja Verpflichtungen, so etwa in der Familie. Flexible Arbeitszeitmodelle geben Müttern und Vätern die Möglichkeit, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen.
Die zunehmende „Entgrenzung“ der Arbeit bringt einen Freiheitsgewinn, sie birgt allerdings auch Risiken, denen wir begegnen müssen. Nicht für jeden Mitarbeiter ist Home-Office das Richtige. Die Entgrenzung der Arbeit braucht klare Regeln und Routinen, sonst führt sie zu Überlastung und Stress, nicht zuletzt auch durch die ständige Erreichbarkeit dank digitaler Kommunikationstechnologien. Aber diese Risiken sollten uns nicht da-ran hindern, die Chancen der neuen Arbeitsformen wahrzunehmen. Arbeit kann ein zentraler Teil eines gelingenden Lebens sein. Dazu müssen wir die Arbeit allerdings an unser Leben anpassen – und nicht, wie bisher, umgekehrt.
Thomas Vašek, geboren 1968 in Wien, ist Chefredakteur des philosophischen Magazins Hohe Luft und betreibt den Blog work-life-bullshit.de.
Zuletzt erschien sein Buch Work-Life-Bullshit. Warum die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre führt (Riemann Verlag). Vašek lebt in München.
Dominika Meindl
Per Anhalter durch die Tabakfabrik
Schöne Attrappen, göttliches Arbeiten
und die Suche nach dem Sinn des Lebens
Qualitätsrausch, Designermöbel und Porsche ohne Pferdestärken.
Das alles gibt es in der Tabakfabrik.
Dominika Meindl hat den Ort, an dem es
noch Ökoleinen, Klebeband und ein bisschen noch
nach altem, altem Tabak riecht, für uns durchwandert.
Schöne Attrappen, göttliches Arbeiten
und die Suche nach dem Sinn des Lebens
Ein barbrüstiger Gigant lümmelt auf einer Weide, seine Schäfchen zugunsten des Laptops missachtend. Er und der Slogan „Arbeiten wie Gott in Frankreich“ zieren den virtuellen Zugang zur Tabakfabrik. Nicht Gott, sondern Peter Otto („Leitung Service und Information“) ziert den realen Eingang. Viele halten ihn für die gute Seele des Betriebs. Otto erzählt, dass er gleich nach Dienstantritt wegen der langen Wege etliche Kilo verloren hat. „Vorgestern habe ich den Rekord aufgestellt: Elfmal bin ich zur Kunstuni in den fünften Stock hinauf und wieder hinunter!“
Zwischen Straße und Bau 1 zieht sich ein 226 Meter langer Streifen mit Kräutern und Blumen. Binnen Kurzem hat die „wachstumsphase“ – ja, so heißen die urbanen Gärtner hier – aus dem faden Rasen einen Gemeinschaftsgarten gemacht. Besonders auf- und sinnfällig sind die Tabakstauden, die hier wachsen. Ein Geschenk eines ehemaligen Mitarbeiters der Tabakfabrik. Aus Ärger darüber, dass in Österreich keine einzige Zigarette mehr produziert wird, hat er selbst eine Marke eingeführt: „Tschick“.
Einer der letzten warmen Tage im Jahr. Da und dort noch sitzen Menschen, auf Designer-Sperrholz oder Sesseln aus dem Altbestand, rauchen, plaudern, planen. Barbara Lambert, die über Controlling und Recht wacht, hat mir „Klein-Schönbrunn“ gezeigt, ihren Lieblingsplatz unter riesigen Bäumen, von dem aus man alles im Blick hat. Der Gedanke, eine Suppe vom Behrens-Koch-Kolektiv (bleibender Tippfehler) zu holen oder vielleicht das hübsche Krimskrams-Angebot dort drüben zu sichten, drängt sich auf. Oder gleich im Containerdorf ein Bier kaufen? Zuerst lieber doch die Arbeit.
Das Lego-Maxl auf Stippvisite in Linz. Bei der „Nite of the Bricks“ der CREATIVE REGION Linz & Upper Austria im Juni wurde über Bausteine der Kreativindustrie diskutiert.
Im Oktober fand in der „Tschickbude“ eine riesige Party für Menschenrechte statt, mit Dutzenden DJs und Acts an vier verschiedenen Locations. Arbeiter haben längst alle Spuren beseitigt und bereiten den nächsten Musikevent vor. Eines der lässigsten Konzerte hier war das Open Air vor drei Jahren, sagen alle, als Parov Stelar den Behrens-Platz in einen friedlichen Hexenkessel verwandelte. 5.000 Besucherinnen und Besucher füllten das Areal und hatten immer noch genug Platz zum Tanzen. Ich kann mich selbst noch erinnern, ich schmuggelte Wiener Gäste in den Backstage-Bereich im Erdgeschoß der Magazine. Die Stadtmäuse bekamen glänzende Augen, so etwas Cooles wie den „Ostblock“ hatten sie wirklich nicht erwartet.
Das Temporäre der Zwischennutzung fällt auf diesen 10.000 Quadratmetern ins Auge. Hier ist Linz sogar ein bisschen Berlin. Seit August stehen bunte Hochsee-Container vor den Magazinen, die
„Boxircus“ an Gewerbetreibende vermietet. „Direktor“ Chris Müller wird mir an diesem Beispiel später erläutern, wie man mit Bestimmungen spielt: Gemäß Bauordnung nämlich dürfen die Container nur 13 Tage lang stehen bleiben, sonst werden sie zum Gebäude. So ist das in Österreich. „Also machen wir alles Nötige, damit die Container Container bleiben.“
Es ist klar, dass die Fabrik als Einheit konzipiert ist: Das „Linzer Blau“ dient als roter Faden (Verzeihung, Stilblüte), Formensprache, Typografie und künstlerische Gestaltung sind homogen. Keiner ihrer Eingänge macht die Eintretenden klein, wie es etwa vor dem Landesdienstleistungszentrum geschieht. In der Tabakfabrik sollten Menschen arbeiten, keine Ameisen, die durch ein gigantisches Tor in den Bau kriechen. Im Gegenteil, von außen wirken die Öffnungen unspektakulär. Die Weitung, die danach kommt, ist umso überraschender. Wie überhaupt die Architektur dem menschlichen Maßstab Genüge tut. Hell sind die Räume, großzügig und nach 80 Jahren noch immer in gutem Zustand. Zu Recht also der Denkmalschutz, obwohl er die Zwischennutzung teuer und überaus schwierig machte.
Porsches, Leichen und Soldaten
„Jeder Raum musste den Behörden abgetrotzt werden“, erzählt Kommunikationsleiter Thomas Diesenreiter. „Das war eine ewige Hack’n am Anfang.“ Nur die später gebauten Zwischenmagazine und die Gebäude an der Gruberstraße sind ausgenommen. „Die Gebäude aus den Dreißigerjahren stehen da wie ein Einser, während es in die aus den Achtzigern reinregnet“, sagt Diesenreiter amüsiert. Deswegen werden sie auch abgerissen, sobald der Bau der zweiten Linzer Straßenbahnachse beginnt. Die Haltestelle wird unterirdisch in das Gelände integriert, dazu kommt eine Parkgarage für die steigende Zahl der Mieterinnen und Mieter.
Das sind aktuell rund 70, eine Mischung aus Kreativwirtschaft, Handel, Kunst und Sozialem – vom verpackungslosen Markt über die „Sektion Zweirad“ bis zum italienischen Honorarkonsulat. Seit jeher sind die Mieten unterteilt in Kommerz-, Kultur- und Sondertarife. Einen solchen Spezialpreis, um nur ein Beispiel zu nennen, zahlt Severin Agostini. Seit 2014 veranstaltet der 33-Jährige hier Poetry-Slams unter dem Titel „PostSkriptum“. Aus der Platznot in der Innenstadt hatte er eine Tugend gemacht und sich hierher gewagt. Und er erwies sich sofort als Crowd Pleaser: 160 Zuseher kamen zur Premiere, Tendenz seitdem steigend. Der Slam wandert zwischen Etage Lumière und Lösehalle.
„Es taugt mir sehr, das Publikum feiert’s, die Poeten und Poetinnen mögen es auch.“ Nur die Kulturförderungen sind zu niedrig. Er möchte den Künstlerinnen und Künstlern gerne mehr zahlen.
Der Querdenker als Animateur. Ausrangierter ÖBB-Waggon vor dem Bau 2 (links). Selbst gedruckte Getränke bei „Print a Drink. Robot-made Cocktails“, einem Projekt von Benjamin Greimel.
Anhand der Route, auf der Diesenreiters Schreibtisch durch das Gebäude gewandert ist, ließe sich auch über die Tabakfabrik erzählen: „Ich bin sicher zehnmal umgezogen“, sagt er, erzählt vom alten Firmenkonzept, dem Gegenteil der Just-in-time-Produktion. Einen Monat lang hätte man ohne Rohstoffzufuhr produzieren können. „Das Einzige, was täglich frisch hereinkam, waren die Arbeiterinnen.“ Im Hochregallager, dem heutigen „Quadrom“, wo unlängst Porsches, Terrakotta-Krieger, Sarkophage und Skateboard fahrende Leichname gezeigt wurden, konnte der österreichische Monatsbedarf an Zigaretten gelagert werden.
Heute bildet das „Brandland“ mit seinen großen Ausstellungen das finanzielle Kraftwerk der Fabrik, während die Turbinen des alten Werks schon lange stillstehen. Im Erdgeschoß des markanten Gebäudes befinden sich nun die Grafische Manufaktur und diverse Werkstätten. Die riesige Turbinenhalle im Obergeschoß wird derzeit höchstens als Hintergrund für Fotoshootings oder Filme verwendet. Ab und zu findet hier eine Veranstaltung statt. Der ideale Ort, um einen Hörsaal einzurichten – finanzieren müsste man’s nur.
Wer sich wünscht, dass die Leute weniger rauchen, muss das Ende von Tabakwerken in Kauf nehmen. Aber die Geschichte von der Privatisierung und Schließung der Linzer Tabakfabrik ist ein neoliberales Exempel dafür, wie sich im Sog der Globalisierung europaweit städtische Industriestandorte leeren. Den Erlös, den der Staat durch den Verkauf erzielte, hätte er mit den profitablen Fabriken in wenigen Jahren selbst erwirtschaftet. Als der Riesenkonzern Japan Tobacco International den Standort in Linz gleich nach der Übernahme schloss, verloren 275 Menschen ihre Arbeit.
Immerhin erkannte die Stadt den vielschichtigen Wert der Immobilie und kaufte sie 2009 um 17 Millionen Euro zurück. Um das Wachstum in Richtung Hafen zu steuern und um aus der Industriebrache ein „Zentrum der regionalen Kreativwirtschaft“ (das liest man immer wieder) zu machen.
„Ich bin mir nicht sicher, ob der Bürgermeister und sein Finanzchef damals gewusst haben, was genau sie damit anfangen sollen“, meint Chris Müller. „Aber sie haben Gespür und Mut bewiesen!“ Mittlerweile arbeiten wieder mehr als 300 Menschen hier. Kann man ein Happy End nennen (aber nur, wenn es den einstigen Hacklern auch wieder gut geht).
„Move on!“ heißt ein Album des Linzer DJs Parov Stelar. Wie passend für die Aura dieses Ortes. Hier bei einem Open-Air-Konzert im Innenhof.
Das zweite Leben der Tabakfabrik begann 2010. Die Brücke zur von der Stadt getrennten, verlassenen Insel schlug das Ars Electronica Festival. „REPAIR. Sind wir noch zu retten“ hieß das Motto damals. Eine Pointe! Ein Festival über die Krise, veranstaltet in einem Areal, das am Tiefpunkt der vorangegangenen Krise errichtet worden war. Kaum eine Ars haben wir Linzerinnen und Linzer intensiver verfolgt als diese, tagelang streiften wir euphorisch herum. 80.000 Quadratmeter Nutzfläche! Jeder wollte irgendwas auf die Beine stellen. Man muss fast froh sein, dass nicht alle hergezogen sind, dass das Vakuum nicht alles Kreative aus der Innenstadt gesogen hat.
„Die Tabakfabrik war eine riesige Leinwand, auf die jeder etwas projizieren konnte“, sagt Diesenreiter. Was wäre die Kreativgesellschaft ohne den Leerstand? Im Sommer 2015 bespielte die Ars Electronica übrigens das aufgelassene Postzentrum am Hauptbahnhof. Wird sie irgendwann die irrwitzig große Industriebrache der Voest besiedeln, wenn die nach Chengdu zieht?
Tags darauf nähere ich mich der Tabakfabrik von Norden her, über die todgeweihte Eisenbahnbrücke. Von hier aus ist Bau 2 zu sehen, das Renommierstück der neuen Fabrik. Die ehemalige Pfeifentabakproduktion wurde 2013 nach dem Plan des Büros Kleboth Lindinger Dollnig umgebaut. Das architektonische Konzept, in die Räume eine zweite Membran aus Glas einzuziehen, muss man mit eigenen Augen gesehen haben.
Nackt? Oder doch lieber komplett fertig?
Bau 2 stellt den derzeit schicksten Teil der Tabakfabrik dar – obwohl (oder eher weil) äußerlich und im Stiegenhaus ein leicht abgerocktes Flair erhalten geblieben ist. Ein ausrangierter Waggon steht im Eingang, er wirkt eher kreativ als praktisch. Hier biege ich in den „salon hochstetter“ ein. Das Angebot (Möbel und allgemein schönes Zeug) löst Begehrlichkeiten aus, ich muss mich zusammenreißen, um nicht gleich das Honorar für diesen Text hierzulassen.
„Die Atmosphäre ist wunderbar“, sagt Tamara Hochstetter, man habe sogar Laufkundschaft. Ob denn ein „Concept Store“ abseits der Linzer Hauptachse funktioniere? Heinz Hochstetter hebt sein Handy. „Damit kaufen die Leute ein!“ Um im echten Leben an sie heranzukommen, müsse man sich ohnehin etwas Neues überlegen. Sobald sie aber leibhaftig im Salon stehen, beginnen sie zu schwärmen. „Sie sagen, dass sie so etwas von Skandinavien, Berlin, London kennen“, erzählen die beiden. Aktuell sind sie gerade dabei, den jüngst frei gewordenen Raum im Erdgeschoß in eine „Concept Mall“ zu verwandeln, und suchen passende Mieter.
Appetit auf ein zweites L: Behrens Koch Kolektiv im Erdgeschoß der Tabakfabrik
Hochstetter begleitet mich hinauf ins Axis. Im „Coworking Loft“ übernimmt Iris Mayr die unangemeldete Besucherin. Die Geschäftsführerin hat genug zu tun, sie freut sich aber. Es sei ihr ohnehin ein Anliegen, die Barrieren weiter einzuebnen. Ob denn nicht alle einander kennen? „Nein! Alleine im Bau 2 arbeiten mehr als 200 Leute.“ Kollaboration statt Konkurrenz, das passt zur Vorgabe des Unternehmens. Mayr arbeitet gerne hier. „Das Gebäude ist spitze, Behrens hat ein Kunstwerk geschaffen.“ Wir setzen uns in den Wintergarten, sie erzählt vom Gemeinschaftsbüro, dessen Besetzung sie kuratiert. Die Mischung aus Kunst, Technologie und Gesellschaft begeistert sie. „Das ist mehr als nur ein reiner Start-up-Tempel.“
Ich wechsle hinüber zu Bau 1. Immer noch begeistert mich der elegante Schwung des Hauptgebäudes. 226 Meter lang, sechs Stockwerke, vier Stiegenhäuser, 24.000 Quadratmeter Nutzfläche. Vor Kurzem begann der zweite Teil der Sanierung. Substanz und Ausstattung sollen auf den neuesten Stand gebracht werden, ab Oktober 2016 beginnt dann die große Einzugswelle. Im Vergleich zum hochwertigen und dementsprechend teuren Bau 2 wird es eine differenzierte Mietpreispolitik geben – mit flexiblen Raumgestaltungen von „nackt“ bis „komplett fertig“.
Der Komplex wird gedrittelt: Ein Block beherbergt Forschung und Entwicklung, ein weiterer dreht sich um die Praxis, um die Entwicklung von Prototypen, ein dritter ist für die raueren Vorgänge reserviert, bei denen es auch laut und stinkig sein darf. Interessenten gibt es genug, pro Woche kommen mehrere Anfragen. Allein damit wäre Bau 1 bereits überfüllt. Eine Mieterin gibt es jetzt schon. Erst kürzlich hat das erste Semester des Studiums „Fashion & Technology“ begonnen, oben im fünften Stock, wo der Herr Otto immer rauf- und runterrennt. Die Kunstuni wurde als Mieterin bei der Revitalisierung vorgezogen. „Das passt zu uns und zu den vielen Textil- und Designmessen, es gibt ja schon die WearFair, den Modepalast und den Kunst- und Designmarkt“, hatte Diesenreiter gesagt.
Shoppen mit Stil im salon hochstetter
Einer der Pioniere war Hannes Langeder, der im Feuerwehrdepot seine einzigartige Autowerkstatt betreibt. Hier hat er aus Plastikrohren und Klebeband den langsamsten Porsche der Welt gebaut. Der mittlerweile berühmte „Ferdinand“ hat aus Gewichtsgründen keinen Motor, angetrieben wird er mittels Liegerad. Es freut Langeder, dass Ferrari jüngst seinen beflügelten „Fahrradi“ abgekupfert hat: „Der neue 488er schaut meinem ziemlich ähnlich.“ Deswegen ein Gericht zu bemühen, dafür fehle ihm Zeit und Geld. Er liebt das Plagiat ja selbst. Im Depot hat er die Hülle eines Bugatti Veyron stehen. „Es ist viel zu teuer und aufwendig, damit zu fahren. Wer einen hat, der lässt ihn doch nur in der Garage stehen.“ Dafür reiche seine Attrappe auch.
Ein signifikanter Ort ist die Lösehalle, in der es noch immer nach dem Tabak riecht, den Arbeiterinnen hier einst vom Strunk lösten. Nachdem die Lösehalle mit der angrenzenden Ganghalle auf eine Fläche von annähernd 5.000 Quadratmetern kommt, ist sie der beste Platz für große temporäre Veranstaltungen. Wie etwa das Craft Beer Festival im vergangenen Sommer, bei dem ich einen Qualitätsrausch erwarb. Solche Events ziehen neues Publikum an.
Ich erinnere mich, da standen zwei junge Männer vor dem Behrens-Grill und unterhielten sich: „Normalerweise bin ich hier nicht unterwegs“, sagte der eine. „Das sind nicht meine Leute.“ – „Wie?“ – „Na, links halt.“ Normalerweise feiern hier die Grünen ihre Zugewinne bei der Landtagswahl. Oder es kommen 13.000 Besucher und Besucherinnen zur WearFair, der Messe für ökologische Mode. Etliche von ihnen kauften jene Imbisse, die Flüchtlinge aus Syrien, Kamerun, dem Iran und Irak anboten.
Zwei Wochen vor der letzten WearFair ereignete sich etwas Neues in der Lösehalle: Als die ungarische Regierung Zehntausende Flüchtlinge über die Grenze nach Österreich ließ, läutete bei der Verwaltung das Telefon: In sechs Stunden seien 500 Flüchtlinge unterzubringen. Kurzerhand bauten Helferinnen und Helfer Feldbetten auf, organisierten Verpflegung und medizinische Versorgung und richteten einen Kinderspielbereich sowie Räume für die Einsatzkräfte ein.
Wo früher Zigaretten produziert wurden, kann man heute kreative Konzepte entwickeln (AXIS, Bau 2), ziemlich grüne Klamotten shoppen (WearFair, Bau 1) oder beinahe ungestört tanzen, wie etwa auf dem Dach des Kraftwerks.
Erst kurz vor der Deadline gelingt es mir, ein Treffen mit dem Direktor für Entwicklung, Gestaltung und künstlerische Agenden zu vereinbaren, aber da bin ich in bester Gesellschaft. „Ich sag meiner Frau immer, sie soll sich Termine mit meiner Assistentin ausmachen, die hat als Einzige den Überblick“, sagt Chris Müller. An diesem Tag bin ich die siebte von elf angemeldeten Gesprächspartnerinnen. Wir gehen durch sein Büro, das Bücherstapel, Tigersessel und ausgestopfte Vögel zieren. „Hier bin ich nie, ich bin ja immer unterwegs.“ Wir setzen uns in das Besprechungszimmer, in den sogenannten „Goldenen Hafen“, weil er mir die golden lackierten Gerüste, die Baulampen-Luster und den in Sperrholzplatten gefassten falschen Kamin zeigen möchte.
Ich übermittle Müller ein paar Wünsche: erstens ein Fuß-Kilometergeld für Herrn Otto, zweitens einen Nahversorger und drittens mehr Personal für die Damen von Controlling und Presse. Außerdem hätte Porschemann Langeder gerne einen Posten im Aufsichtsrat sowie einen schiffbaren Zugang zur Donau. Dann reden wir doch ernsthaft. Müller ist stolz. Soeben hat das Kontrollamt den Betrieb für mustergültig erklärt. Bei Vermietungen und Veranstaltungen ist man im Plus. Wenn die Gebäude dereinst alle saniert und vermietet sind, werden auch hier Gewinne erwartet.
Die Phase der Zwischennutzung geht zu Ende. Kein Wunder, dass die Effizienz gelobt wird: Entwicklung, Vermietung und Bespielung müssen ein Kernteam von elf Menschen stemmen. „Das geht nur, weil die Leute so super sind.“
Müller ist wahrlich begeistert. „Wir sind Immobiliendelfine, nicht -haie“. Er zitiert aus Moby Dick und Dracula, stellt fest, dass Hitler mit seiner Patenstadt heute keine Freude mehr hätte, und ist froh, so etwas wie die Tabakfabrik nicht in Salzburg entwickeln zu müssen. Linz sei besonders, allein schon durch die Voest. In der Nähe zu einer Stadt gebe es so etwas eigentlich gar nicht mehr.
„Die Leute in Linz sind offen für Neues. Und ich finde, gerade an so einem Ort ist es die Hauptaufgabe der Stadt, Experimente zu ermöglichen. Wir setzen uns liebend gern dem Vorwurf aus, beliebig zu sein. Denn je mehr Diversität wir hier herinnen haben, desto mehr erfahren wir über die Zukunft“, sagt Müller, während ich an Per Anhalter durch die Galaxis denken muss, wo sich herausstellt, dass die Erde ein Riesencomputer ist, der die Frage nach dem Sinn des Lebens, des Universums und des ganzen Rests beantworten soll. Per Anhalter durch die Tabakfabrik. Linz darf gespannt sein, welche Antworten die ehemalige Tschickbude ausspuckt.
Dominika Meindl, geboren 1978 in Linz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Sie arbeitet als Journalistin, Kolumnistin, Moderatorin, Schriftstellerin und Poetry-Slammerin. 2009 gründete sie die erste Linzer Lesebühne „Original Linzer Worte“ (mit Klaus Buttinger und René Bauer), die einmal im Monat stattfindet. „Die Frau mit recht wenigen Eigenschaften“ bloggt außerdem auf minkasia.blogspot.co.at.alter durch die Tabakfabrik. Linz darf gespannt sein, welche Antworten die ehemalige Tschickbude ausspuckt.
Fotos: 1, 2, 4, 5, 6, 7: Florian Voggeneder. 3: Michael Oskar Wlaschitz. 8: by sahlia
Mieter*innen im Porträt
Grafische Manufaktur
GentleTent
Red Sapata
Tschick
GameStage
Hannes Langeder
Arge Marie
Wojciech Czaja
Bilder einer Ausstellung
Wie vermittelt man Kunst und Geschichte?
Dieser Frage geht der Ausstellungsmacher und Szenograf Manuel Schilcher
mit seinem Büro argeMarie nach. Und ja, es sind schöne, beeindruckende Bilder.
Ausstellungsarchitektur, Gedenkstätte Mauthausen
Sein jüngstes Projekt wurde von mehr als zwei Millionen Menschen gesehen. Mehrere Hunderttausend Mal, schätzen die Betreiber, wurde ein von ihm inszeniertes Detail sogar auf Selfies festgehalten. Keine schlechte Bilanz. Die Rede ist von der EXPO 2015 in Mailand. Für den Österreich-Pavillon vom Grazer und Münchner Architekturbüro terrain entwickelte er die gesamte Szenografie, darunter beispielsweise auch jene begehrte Spiegelwand mit dem Schriftzug „GREETINGS“, vor der die Besucherinnen und Besucher bisweilen Schlange standen. Man musste sich bloß auf den richtigen Aussichtspunkt platzieren, schon kamen aus dem Blätterdickicht des 560 Quadratmeter großen Waldes im Hintergrund plötzlich die spiegelverkehrt installierten Buchstaben „AIRTSUA MORF“ zum Vorschein. Und Cheese.
„Wenn man Ausstellungsarchitektur macht“, sagt Manuel Schilcher, „dann muss man Rücksicht nehmen auf die Materie, auf das Genre und vor allem auch auf das emotionale und psychische Umfeld, in dem man sich gerade befindet.“ Auf einer EXPO, meint der 49-jährige Gestalter, gehe es nun mal um Spaß, Erlebnis und Unterhaltung. Indem man den Menschen ein spielerisch zu entdeckendes Fotomotiv schenkt, erfülle man auch die tiefe Sehnsucht, die auf einer Weltausstellung von jeher geweckt wird, nämlich in Bildern und Gedanken um die Welt zu reisen und diese Eindrücke fotografisch festzuhalten.Beispielsweise in Form einer Grußkarte from Austria.
Respire Autriche: Die Ausstellungsarchitekur im österreichischen Pavillon auf der EXPO 2015 in Mailand stammte von argeMarie
Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern betreibt Schilcher das Linzer Büro argeMarie, benannt nach dem ersten Arbeitsraum in der Linzer Marienstraße, in dem er früher tätig war. Heute sitzt er in der Tabakfabrik, Bau 1, zweiter Stock, 120 Quadratmeter. Mit Ausstellungsmacherei und Szenografieproduktion von der Stange jedoch hat argeMarie nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Nach seinem Studium der experimentellen Gestaltung bei Herbert Lachmayer an der Kunstuniversität Linz setzte er sich intensiv mit Kunst und Kunstvermittlung auseinander, unter anderem im Ars Electronica Futurelab sowie als Researcher in Residence in Tokio und New York.
„Bei Ausstellungsarchitektur geht es weniger um die Architektur als vielmehr um ein stimmiges Gesamtkonzept, das sich der Materie, den Exponaten und dem Gedanken der Verständlichkeit und Vermittlung unterordnet. Meine Aufgabe ist es, diesen Erkenntnisgewinn gestalterisch zu unterstützen.“ Jetzt versteht man auch, warum die argeMarie-Projekte auf der Website in 2D, 3D und 4D unterteilt sind. „Die vierte Dimension ist der Wissenstransfer“, so Schilcher.
Dass dieser keineswegs vorsichtig, geschweige denn langweilig aussehen muss, beweist die 2013 eröffnete Ausstellung in der Gedenkstätte Mauthausen. Die Architektur ist extrem stark und doch niemals aufdringlich. Form, Farbe, Material und Licht machen die Emotionen auf der Opfer- und Täterseite baulich manifest. Gänsehaut. Genau diesem Gänsehautfaktor will sich Manuel Schilcher auch in Zukunft widmen: „Mich interessieren die sozialpolitischen Zusammenhänge von Kunst, Geschichte und Wissensvermittlung. Da gibt es noch viel zu erforschen.“
Fotos: 1: Dietmar Tollerian. 2, 3: argeMarie
Wojciech Czaja
Das Leben ist kein Spiel
Der Verein GameStage betreibt die Dokumentation
der Computerspielkultur mit großem Ernst.
Menschenmengen vor dem Monitor. Die einen halten Spielkonsolen in der Hand, die anderen stehen vor Spielhallenautomaten, sogenannten Arcades, und dann gibt es noch jene, die einen auf Zurück in die Zukunft machen, mit funkelnden Pupillen und Coca-Cola-Strohhalm im Mund, vor diesen knallorangen, seitlich beräderten Kugelbildschirmen namens Discoverer, die Philips in den Achtzigern auf den Markt brachte. Rund 1.700 Besucher kamen zur letzten GameStage Expo im Oktober 2015 in die heiligen Hallen der Spiel- und Flipperautomatensammlung. Zu verdanken ist die Initiative dem 2013 gegründeten Verein zur Förderung der Computerspielkultur, GameStage, der in der Tabakfabrik seine Homebase und sein Lager hat.
„Uns geht es nicht nur um Kling, Boing und Krawumm, nicht nur um das Spielvergnügen an sich, sondern auch um die Erhaltung und Dokumentation einer bereits mehr als 40 Jahre alten Spielkultur“, sagt der Vereinschef und (künftige) Museumsdirektor Andranik Ghalustians. „Das Medium ist zwar ein junges, aber das Genre ist mehr als schützenswert.“ Vor allem angesichts der Tatsache, dass die meisten Computerspiele heute nur noch als Software-Paket oder Download-File existieren, sei die spezifische, unverwechselbare Hardware – mal abgesehen von Gameboys und Playstations – längst Geschichte. „Diese Automaten dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Dafür setzen wir uns ein.“
Mit rund 15.000 Exponaten und weiteren knapp 60.000 Spielen ist GameStage die derzeit größte Sammlung dieser Art weltweit. Nach den Vorbildern von Paris, New York und Tokio möchte man demnächst auch in der Tabakfabrik, Bau 1, ein kleines Museum eröffnen, um dieses Kulturgut einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Foto: Teresa Timelthaler
Wojciech Czaja
Luftschloss für Camper und Tramper
Geht es nach dem Start-up Gentletent,
so wird man nie wieder die Zelte abbrechen müssen.
Das Motto der Stunde lautet Aufblasen und Ausblasen.
Kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass diese Zelte mit Hülsen, Schlaufen und Stanglwerk nach einem langen Fußmarsch bei Dämmerung und Gelsenschwärmerei einfach und nervenschonend zu bedienen sind. Das dachte sich auch Gernot Rammer in all seinen Jahren als privat wie beruflich leidenschaftlicher Camper. Im Frühjahr 2014 schlug der Frust in positive Energie um und das Start-up-Unternehmen Gentletent mit Sitz in der Tabakfabrik Linz, Bau 1, ward gegründet.
„Ich wollte ein Zelt, das einfach auf- und abzubauen ist und das nur einen Bruchteil der konventionellen Stangenzelte wiegt“, sagt Gentletent-CEO Rammer. „Wir haben lange experimentiert, aber es hat sich ausgezahlt.“ Die Konstruktion ist neuartig, denn weit und breit gibt es kein einziges Stück Metall. Stattdessen wird das Zelt von Luft getragen. Mittels Handpumpe oder elektrischer Pumpe, die man über jeden Zigarettenanzünder speisen kann, wird eine Primärkonstruktion aus Cordura und thermoplastischem Polyurethan (TPU) aufgeblasen. Eine dünne atmungsaktive Polyesterhaut mit Acrylbeschichtung, die zwischen den Rahmen aufgespannt wird, schützt das temporäre Häuschen vor Witterung.
Links: Das Gentletent. Rechts: Die Gentlemen hinter Gentletent.
Das kleinste Zelt für zwei Mann wiegt gerade mal drei Kilogramm. Das derzeit schwerste Produkt im Programm, ein vier Meter breites Vorzelt, das man an Autos und Wohnwagen andocken kann, bringt 18 Kilogramm auf die Waage. „Wichtig war uns nicht zuletzt ein neuer, frischer Auftritt“, so Rammer. „Zelte gibt es seit 40.000 Jahren. Wenn man schon etwas Neues auf den Markt bringt, dann muss sich das auch in einem neuen Design niederschlagen.“ Grau und Tarnfarbengrün wird man daher vergeblich suchen. Mit einer potenziellen Vorliebe für Grasgrün und Himmelblau ist man schon eher ein Anwärter für das neue Campen.
Fotos: Gentletent
Wojciech Czaja
Der Mann mit den Druckmitteln
In der Grafischen Manufaktur wird Buchdruck wie in alten Zeiten betrieben.
Gearbeitet wird, wie der Name schon sagt, ausschließlich mit der Hand.
Druckerschwärze? Suchtfaktor!
Jeder Handgriff ist eine Geschichte: Rio Roither an einer historischen Heidelberg-Maschine
Zurzeit arbeitet er an Visitenkarten für ein Hotel, an einer Broschüre für einen exklusiven Uhrenhersteller, an einer höchst aufwendigen Likörverpackung für eine Linzer Werbeagentur. Mit wer weiß wie vielen Tonnen Pressdruck senkt sich die Maschine um ein paar Millimeter, drückt den Stapel kleiner rechteckiger Baumwollpapiere zusammen, presst auch die letzte Faser in Form und schneidet, ritsch, mit sauberer Kante den überschüssigen Druckrand ab. Als nächstes, sagt Rio Roither, sei der sogenannte Folienschnitt dran. Mit den farbigen Folien bekommt die Schnittkante, im Fachjargon auch „dritte Dimension“ genannt, jenen individuellen Anstrich, mit dem sich das Kärtchen von den vielen Konkurrenzprodukten am Markt unterscheidet und dem Empfänger schließlich in Erinnerung bleiben soll.
„Es gibt so viele schlechte, billige Drucksorten am Markt, das tut mir manchmal im Herzen weh“, sagt der 41-jährige ausgebildete Buchdrucker. Anders als die meisten Kollegen seiner Generation hat er nämlich nicht nur eine klassische Druckerlehre gemacht, sondern lernte nach der Ausbildung 13 Jahre lang bei einem Berliner Buchdrucker das traditionelle Drucken mit Setzkasten, Bleisatz und oft stundenlanger Feinjustage mit Seidenpapier, bis alle Buchstaben gleichmäßig ausdruckten. Eine Wissenschaft für sich.
„Ich denke, man kann nicht wirklich rational erklären, warum man sich diese Arbeit antut“, sagt Roither, Druckerschwärze unter den Fingernägeln, Jeans und Pullover, kleines geheimnisvolles Tattoo am Hals. Auch eine Art ewig bleibende Drucksorte. „Das hat mit Liebe zum Handwerk, mit Leidenschaft zu tun. Es gibt genug Leute, die Wert legen auf diese Art von Qualität.“
63 Quadratmeter betreibt Roither im ehemaligen Kraftwerkshaus im Zentrum der Tabakfabrik. Durch das gefrostete Glas fällt fahles Südostlicht in den Raum. Weitere 80 Quadratmeter Werkstatt und Lagerfläche mietet er im Keller. Unglaublich, wie viele Maschinen man auf dieser kleinen Fläche unterbringen kann. Druckmaschinen, darunter auch eine alte Heidelberg Cylinder, Belichter, Rüttler, Eckenrundungsschneider, Sammelhefter, Papierbohrer, und ja, einen Apple Mac gibt es auch. Die meisten Geräte sind noch aus den Fünfzigerjahren. Die älteste Maschine in Roithers Reich jedoch, eine Kniehebelpresse für Leder- und Papierprägung, stammt aus dem 18. Jahrhundert. Sie ist immer noch in Betrieb.
Am meisten Wert legt Roither auf die Qualität des Papiers. „Ich bin ein Haptik-Freak. Das ist mein absoluter Spleen. Wir haben im Lager Papiere aus aller Welt, dafür kaufen sich andere einen Mittelklassewagen“, sagt er. „Bei Sonderbestellungen muss ich manchmal bis zu vier, fünf Wochen lang auf die Ware warten. Aber keine Sorge, es gibt auch gute günstige Papiere.“ Und? Gibt es eine Mindestauflage in der Grafischen Manufaktur? Roither schüttelt den Kopf. Schelmisches Grinsen. Das kleinste (gewiss nicht das billigste) Projekt war einmal ein Buchdruck mit einer Auflage von einem Stück. Das rote Lämpchen leuchtet auf. Dreht die Kurbel. Und Schnitt.
Fotos: Florian Voggeneder
Wojciech Czaja
Exhibitionist mit null PS
Der bildende Künstler Hannes Langeder baut
in der Tabakfabrik ganz schön heiße Sportwagen.
Man sollte gute Wadln haben, um diese Dinger zu fahren.
Er ist der Erbauer des langsamsten Porsches der Welt. Mit 10 km/h rollte der golden glitzernde Wagen bereits etliche Male durch die Straßen von Linz. Die Blicke sind dem Fahrer, der so gerne mit elitären Sehnsüchten, Luxusbegriffen und Erwartungshaltungen jongliert, jedes Mal aufs Neue sicher. Und das liegt nicht nur an der ungewöhnlichen Farbe und an der ULC, der Ultra Light Construction, des nur 150 Kilogramm schweren Gefährts, sondern vor allem auch am Antrieb. Unter der Motorhaube des Ferdinand GT3 RS stecken nämlich keine Pferdchen, sondern bestenfalls vier Beine, die in tretender Manier das Ding zum Rollen bringen. 24 Gänge. Das hat kein 911er.
„Ich habe immer schon davon geträumt, einen Supersportwagen zu besitzen“, sagt Hannes Langeder. „Die Umstände haben mich gezwungen, mir diesen Traum auf diese Art zu erfüllen. Aber ich liebe es. In der Imitation der Realität und der damit verbundenen Irritation des Betrachters scheint das Vergnügen für mich größer als mit jedem noch so wunderbaren Original.“ Die Achse des 2010 erbauten Ferdinand besteht aus Stahl, das Chassis ist aus handelsüblichen Kabelrohren zusammengebunden, das heiße Blech darüber entpuppt sich als goldenes Klebeband, frisch aus den USA importiert. Rund 50 Rollen hat die Karosserie verschlungen. Die runzelige, schlampig verarbeitete Oberfläche soll an den zu 100 Prozent manuellen Fertigungsprozess erinnern.
Links: Ferdinand GT3 RS: der langsamste Porsche der Welt, Rechts: Fahrradi auf Ausfahrt in Amsterdam
„In diesem Auto zu sitzen und durch Linz zu radeln, das ist eine Mischung aus Angst und Befriedigung. Aber ja, ich finde diesen Exhibitionismus irgendwie geil.“ Laut Straßenverkehrsordnung dürfen Fahrräder ab einer gewissen Breite die Radspur nicht mehr benützen. Dann muss der Drahtesel per Gesetz auf die Straße. Oder gleich ins Museum. Zuletzt war der goldene Ferdinand in der Ausstellung Ideas for Change im Wiener Museum für angewandte Kunst (MAK) zu sehen.
In der Erdgeschoß-Werkstatt, die zu Tabakzeiten noch als Feuerwehr-Remise genutzt wurde, türmen sich Berge von Klebeband, Klebefolie, Metallfolie und allerlei Exponaten der letzten Jahre. Darunter etwa Puppen, Figuren, Stühle, Fahrräder, die mit Bläschenfolie und Klebebändern umwickelt sind, sowie die „Kunsthalle Linz“. Der tragbare White Cube mit Abmessungen von 40 mal 40 mal 40 Zentimetern ist eine Anspielung auf die nicht wirklich zufriedenstellende Ausstellungslandschaft hierzustadt. Und dann natürlich der rote Fahrradi, das italienisch angehauchte Gegenstück zum Porsche. Die ferrarirot lackierte Tixoskulptur (12 Gänge, LED-Beleuchtung, Flügeltüren) wurde 2013 nach eineinhalb Jahren Bauzeit fertiggestellt.
Als nächstes wird Hannes Langeder, der neben der Kunst auch der Gastronomie frönt und das „Salonschiff Fräulein Florentine“ betreibt, eine Luxusyacht bauen. Das Wasser hat ihn gepackt. „Ich weiß noch nicht, wie die Yacht werden wird. Das wird sich beim Kleben schon weisen.“ Kommando Tretboot vielleicht?
Fotos: 1: Wojciech Czaja. 2, 3: Langeder
Wojciech Czaja
Choreographie der roten Schuhe
Der Tanzverein RedSapata stellt Probe- und Aufführungsräume
für Companies und Profitänzerinnen zur Verfügung.
Regelmäßig finden hier auch Tanz- und Yoga-Kurse statt.
Was für eine Atmosphäre!
Gerade hat ein Tänzer den Raum betreten, zieht sich um, legt fetzige Musik auf und macht erste Dehnungsübungen, die im beingegrätschten Zustand all das übersteigen, was wir Normalknöchernen je zu erträumen wagen. Gergely Dudas, jetzt liegt er bereits am Boden und dreht sich käfergleich um die eigene Achse, ist eines der Mitglieder von RedSapata. Der 2008 gegründete Tanzverein stellt Probe- und Aufführungsflächen zur Verfügung und veranstaltet eine Vielzahl wöchentlicher Kurse von Yoga über Kontaktimprovisation bis Modern Jazz für Fortgeschrittene. Auf rund 500 Quadratmetern Fläche bekommen Profi-Ensembles, Choreografen, Tänzerinnen und Hobbyhüftschwingende nicht nur Raum und Infrastruktur geboten, sondern auch ein wertvolles kollegiales Netzwerk.
„Der Ort hier in der Tabakfabrik ist schon sehr speziell“, sagt Vereinsobfrau Ilona Roth. „Wo kann man sich schon auf so großer Fläche in so hohen Räumen ausdehnen, wenn nicht in einer ehemaligen Fabrik? Ich muss ehrlich sagen, das ist der tollste Raum, in den wir je eingemietet waren. Am meisten angetan haben es mir die Rolltore und der herbe industrielle Charme dieses Ortes.“ Roth selbst ist in Kasachstan geboren, studierte zeitgenössischen Tanz an der Anton-Bruckner-Universität in Linz und leitet heute nicht nur den Tanzverein in der Ludlgasse 19, sondern auch die eigene Company Transitheart Productions.
„Begonnen habe ich wie so viele als klassisches Ballettkind. Gelandet bin ich bei meinem Traum von den roten Schuhen.“ Diese nämlich, wie auch der gleichnamige Ballettfilm mit Anton Walbrook und Moira Shearer (1948), standen Pate für den hispanoiden Kunstnamen RedSapata. Der rote Tanzboden am Rande des Saals erinnert noch an die Anfänge des gemeinnützigen Vereins. So wie auch die – wie könnte es anders sein – roten Garderobenschränke und roten Sofas für danach.
Foto: Florian Voggeneder
Wojciech Czaja
Die Tschick namens Tschick
Die Tschickfabrik knüpft an die Geschichte
der Tabakfabrik an – mit einer eigenen Produktion,
die nicht von ungefähr an damals erinnert.
Die Vergangenheit des Herrn Zigarettenfabrikanten ist unverkennbar. Auf dem Packerl prangt der schwungvolle, an die Zwanziger- und Dreißigerjahre erinnernde Schriftzug „Tschick“. Das dazugehörige Unternehmen, das diese solcherart benamsten Zigaretten produziert, nennt sich, wie könnte es anders sein, „Tschickfabrik“. „Ich habe mich gewundert, dass noch niemand vor mir auf die Idee gekommen ist, eine Tschick ,Tschick‘ zu nennen“, sagt Reinhard Leitner. Seit seinem 19. Lebensjahr war er bei Austria Tabak tätig. Nach dem Ende machte er sich mit einer eigenen Produktion selbstständig.
Zu Beginn wurden die Tschick in Polen produziert, heute wird in Ungarn gefertigt. Schon bald möchte Leitner mit der Herstellung komplett nach Linz übersiedeln. „Ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Maschine habe ich schon. Wenn alles gut geht, würde ich in der Tabakfabrik gerne eine kleine Manufaktur aufziehen“, sinniert der Geschäftsführer des unter anderem in der Tabakfabrik beheimateten Unternehmens. „Eine Art Tabakerlebniswelt mit Info, Aufklärung und einem Blick hinter die Kulissen.“
Der könnte durchaus spannend sein, denn jeder Zigarette werden fünf Prozent Tabak aus heimischem Anbau beigemengt. Angebaut wird in Herrnleis im Weinviertel, da, wo das Land flach und die nebelige Stille fast grenzenlos ist. „Ich würde ja gerne mehr österreichischen Tabak beimischen, aber die Blätter aus Ungarn und Malawi sind einfach aromatischer.“ Gezupft, getrocknet, gerollt und geschnitten wird, wie Leitner versichert, unter fairen Bedingungen. Ohne Tierversuche. Ohne Kinderarbeit. „In Europa zu produzieren, ist nicht einfach. Aber ich glaube an die europäische Tabakkultur.“ 16,7 Milliarden Zigaretten werden in Österreich jedes Jahr geraucht.
Foto: Tschick
Gabu Heindl
Wer raucht hier noch?
Warum sehnen wir uns immer noch nach Arbeitsräumen,
die nach Fabrik, nach Werkstatt, nach Produktionshalle aussehen?
Spannende Frage.
„Your office is where you are.“ So lautet ein geflügelter Satz der Neunzigerjahre.
Doch stimmt das wirklich? Und wenn ja: Warum sehnen wir uns dann so sehr nach Arbeitsräumen,
die nach Fabrik, nach Werkstatt, nach Produktionshalle aussehen?
Gedanken einer postfordistischen Just-in-time-Autorin, die von einstmals rauchenden Schloten, dann rauchenden Menschen und nunmehr rauchenden Köpfen berichtet.
Warum sehnen wir uns immer noch nach Arbeitsräumen,
die nach Fabrik, nach Werkstatt, nach Produktionshalle aussehen?
Spannende Frage.
„Your office is where you are.“ So lautet ein geflügelter Satz der Neunzigerjahre. Doch stimmt das wirklich? Und wenn ja: Warum sehnen wir uns dann so sehr nach Arbeitsräumen, die nach Fabrik, nach Werkstatt, nach Produktionshalle aussehen? Gedanken einer postfordistischen Just-in-time-Autorin, die von einstmals rauchenden Schloten, dann rauchenden Menschen und nunmehr rauchenden Köpfen berichtet.
Gesellschaftliche Fabrik
Die Gesellschaft als eine Fabrik: So lautete ein in den Sechzigerjahren formuliertes Konzept des operaistischen Denkers Mario Tronti (Fabrik und Gesellschaft, 1962). Es ging unter anderem darum, dass – bedingt durch die Erweiterung des System- und Raumtyps Fabrik bis zur Koextensivität mit der gesamten Gesellschaft – sich nicht nur männliche „Massenarbeiter“ als revolutionäre Subjekte erkennen würden, sondern etwa auch Frauen, Reproduktionsarbeiter und Nicht-Fabrikarbeiterinnen.
Das Ausbeutungsprinzip, das in der Fabrik so deutlich ist, würde als Kondition der ganzen Gesellschaft verstanden werden, jedes auch nicht lohnarbeitende Subjekt würde sich als Teil des Proletariats sehen. Die Fabrik, zumal die gesellschaftsübergreifende, ist hier ein paradigmatischer, ein mehr als produktionsarchitektonischer Ort, sie ist vielmehr ein (marxistisch) konzeptueller Ort, an dem sich eine soziale Identität als Klassenantagonismus bildet. Sich als Teil einer großen Fabrik zu sehen, würde gemeinsamen Widerstand gegen die Ausbeutung durch das Kapital initiieren.
Eine solche Ausweitung des Begriffs der Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse hat nicht stattgefunden – ganz im Gegenteil: Das Proletariat gibt es heute nicht mehr – weder als Adressat für Parteien noch als Subjekt der Revolution. Ein großer Teil der Blue-Collar-Arbeit ist während der De-Industrialisierungsphase aus den westlichen Nationen in diejenigen Länder ausgelagert worden, aus denen der Westen heute Massenprodukte bezieht. In der Theorie spricht man heute eher von „Prekariat“ als von Proletariat, von Menschen also, die unter oft extrem unsicheren, postfordistischen Arbeitsbedingungen im Kontext von immaterieller Arbeit oder Denkarbeit tätig sind oder etwa im tertiären Sektor in der sogenannten affektiven Arbeit, zu der beispielsweise auch Pflegedienste zählen.
Paolo Virno, ein nun nicht mehr marxistisch-operaistischer, sondern postoperaistischer Autor, findet die Matrix des gegenwärtigen Postfordismus nicht in der Fabrik, sondern in jenen industriellen Sektoren, „in denen wir es mit der ‚Produktion von Kommunikation mittels Kommunikation‘ zu tun haben, also in der Kulturindustrie“ – in dem, was wir heute Creative Industries nennen.
Im Postfordismus verlangt die Arbeit nach einem Raum, der wie die Öffentlichkeit strukturiert ist‘ und ähnelt einer virtuosen Darbietung (ohne Werk). Dieser Raum heißt bei Marx ‚Kooperation‘.
Genau in dieser Kreativwirtschaft entfalten sich freie Projektarbeit, Selbstständigkeit und Kommunikationsfähigkeit nicht zuletzt in immer wieder neu zu gründenden Netzwerken. Diese Kompetenz, die Virno bei allen Arbeiterinnen als erforderlich ansieht, ist eine Virtuosität im Kommunizieren. Diese Virtuosität ist auch in nicht selbstunternehmerisch beziehungsweise künstlerisch organisierten Jobs gefragt, als Teil der Tätigkeit selbst, aber auch, wenn es darum geht, findig zu sein, weil der nächste Job gefunden werden muss – eine Situation, die Kulturschaffende gewohnt sind. Sie arbeiten tendenziell zeitgleich an mehreren Sachen, ja ihr ganzer Unternehmungsgeist begreift sich erst durch die Vielzahl an parallel laufenden Projekten.
Zugleich wird man in der Kontrollgesellschaft – ein anderes machttheoretisches Wort für den nicht mehr disziplinierenden, sondern flexibilisierenden Postfordismus beziehungsweise Neoliberalismus – mit den Projekten nie fertig (Gilles Deleuze, 1993). Nicht die Fabrik, sondern die Kulturindustrie hat demnach allumfassend die Gesellschaft erfasst.
In den Kreativfabriken findet man wieder den Weg zurück zur Handarbeit. Vielleicht ist es das, was unter dem Begriff „Industrie 4.0“ kursiert? Florian Voggeneder sah sich in den Werkstätten der Tabakfabrik um – und fotografierte Arbeit ohne Arbeiter.
Die Kreativarbeiter der neoliberalen Ökonomie gehören naturgemäß zu denen, die Profit aus der Kulturalisierung der Ökonomie ziehen können. Die parallel dazu stattfindende Ökonomisierung der Kultur schafft aber auch im Kulturbereich extreme Unterschiede zwischen wenigen Gutverdienenden und vielen Ausgebeuteten und sich selbst Ausbeutenden. Bezeichnend für das Prekariat, dem sie angehören, ist auch die Tatsache, dass kaum Spielraum oder freie Zeit bleibt fu¨r Allianzmo¨glichkeiten oder gar (klassen)ka¨mpferische Bestrebungen. Hinzu kommt, dass sich die Kreativarbeiterinnen als mannigfaltig erachten und schon gar nicht als Teil einer Klasse oder einer anderweitig definierten Gleichartigkeitsgemeinschaft sehen.
Fabriken der Kreativwirtschaft
Nun, was hat das alles mit der Linzer Tabakfabrik zu tun? Zunächst ist die Geschichte der Tabakfabrik ein Abbild neoliberaler Politik: 1997 Börsengang, 2001 unter Finanzminister Grasser zur Gänze privatisiert – im Sinne von Privatisierung der Gewinne – und 2009 nach Weiterverkäufen durch die privaten Eigentümer geschlossen und von der Stadt wieder zurückgekauft – ganz im Sinn der komplementären Kollektivierung der Verluste.
In ihrer jetzigen Nutzung ist die Tabakfabrik Linz ein Beispiel für das internationale Phänomen, Creative Industries in verlassenen, gut angeschlossenen und adaptionsfähigen Fabriken anzusiedeln. Für einen kurzen Moment und angesichts der Frage nach Allianzen möge man sich die ganz spezielle Industriegeschichte der Tabakfabrik vergegenwärtigen – als ehemalige Produktionsstätte von Zigaretten. Sind doch Zigaretten ein Sinnbild des 20. Jahrhunderts und damit der Zeit, in der das revolutionäre Subjekt (oft mit einer Zigarette im Mund) noch in konkreter, eben proletarischer Figuration bestand. Oder, um in Filmbildern zu sprechen: Die meisten Leinwandrebellen des 20. Jahrhunderts sind ohne Zigarettenrauch undenkbar – nicht nur kleinbürgerlich-individualistische Protagonisten wie James Dean, sondern auch proletarische wie der junge Jean Gabin. Heute hingegen darf im Mainstream-Film gar nicht mehr geraucht werden.
Im Alltag war das gemeinsame Rauchen Symbol für eine gemeinsame Pause – beim Rauchen von Zigaretten galt keine soziale Rangordnung. Rauchen verbindet bis heute über die soziale Situiertheit hinweg. So gibt es das ungeschriebene Recht, dass jeder Raucher, jede Raucherin jedermann oder -frau um Feuer bitten kann, ganz gleich welchen Standes er oder sie ist, wie es Georg Böse in seinem Buch Und es wird doch geraucht. Eine kleine Kulturgeschichte des Tabaks (1965) beschreibt.
Fragt sich nur: Was aber ist das Pendant zu diesem Recht, auch wenn es ein noch so kleines ist, in einer Zeit, in der (neoliberal-kontrolllogische) Selbstführung und Gesundheitsdoktrin der Mehrheit das Rauchen abgewöhnt haben?
Wer noch Rauchpausen einlegt, erlebt ihn noch, diesen magischen Moment der Kommunikation oder auch der Kontemplation, die nicht selten die eine entscheidende Idee hervorbringt. Die Qualität der Rauchpause steht heute jedoch quer zu Fitness und Gesundheit. Gerade im Creative-Industries-Bereich sind Kasteiung, Selbstführung und gesundheitliche Selbstverantwortung (von Nichtrauchertum bis zu Yoga) aber zugleich gekoppelt mit oft bedingungsloser Selbstausbeutung. Der Arbeitsalltag von selbstständigen Ich-AGs ist Lebensalltag, wenn diese (wie leider auch die Autorin dieses Textes) keinen Unterschied mehr zwischen Arbeit und Freizeit machen. Gerade in Zeiten, in denen die dem Postfordismus eingeschriebene Just-in-time-Produktionslogik immer neue Deadlines und immer neue Zwischen-Deadlines setzt. Dann rauchen heute in der Tabakfabrik zwar nicht mehr die Schlote und auch nicht die Menschen (weil Rauchen eben nicht gesund ist), so doch die Köpfe.
Digitale Medien als Produktionsmittel der immateriellen Arbeit würden selbst unter Zeitdruck erlauben, dem seit den Neunzigerjahren geflügelten Satz „Your office is where you are“ zu folgen und keinen fixen Arbeitsplatz einzurichten. Wenn Kreativarbeit am Computer überall möglich ist, warum aber werden dann aus immer mehr aufgelassenen Fabrikarealen räumliche Zentralen für Kreativarbeit? Braucht die Tätigkeit ohne Werk denn überhaupt noch Produktionsräume, die – wenn auch ohne den Lärm und Gestank laufender Industriemaschinen – nach Fabrik, nach Werkstatt, nach Produktionshalle aussehen?
Ja, das ist eine rhetorische Frage, und man würde sie mit Ja beantworten, denn: Die absolute Entgrenzung der Arbeit sowie die Auflösung der Grenzen zwischen Privatleben und Erwerbsarbeit machen den definierten Raum der Arbeit wieder zu einem relevanten Parameter. Trotz ständiger digitaler Vernetzung und der Möglichkeit zur freien Wahl der Arbeitszeit zeigen die Orte der Creative Industries auf, wie wichtig das räumliche und kollegiale Umfeld ist.
Die Linzer Tabakfabrik zeichnet sich durch die besondere funktionalistische Architektur von Peter Behrens und Alexander Popp aus, durch die Form der städtebaulichen Setzung der Gebäude zueinander und nicht zuletzt durch die gute Lage innerhalb der Stadt Linz. Wie gesagt, das Phänomen der „Creative Factories“ ist europaweit zu finden – vom frühen Beispiel der Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam (früher Kaffee-, Tee- und Tabakproduktion, heute ein Zentrum für Mode, Design und Dienstleistung) bis zu Revitalisierungsprojekten in Wien. Neben den Creative-Industries-Büros in der ehemaligen Schraubenfabrik in der Leopoldstadt und der Hutfabrik im Rochuspark ist die Umnutzung der Ankerbrotfabrik in Favoriten das vielleicht prominenteste Beispiel.
„Wenn die gesamte Gesellschaft auf die Fabrik reduziert wird, dann scheint die Fabrik als solche zu verschwinden.“
Warum also ausgerechnet ehemalige Industrieareale und Fabrikgebäude? Was zeichnet diese umgewandelten Fabriken aus? Zunächst sind sie gefasste, also in ihrer Topografie begreifbare Räume mit hoher architektonischer Qualität. Durch ihre eigene stadträumliche Setzung und die industriellen Kumulationspunkte wie etwa Turbinenhaus oder hohe Schlote, die zu Recht Teil der neuen Planung werden, bietet das Fabrikareal Übersichtlichkeit, Orientierung und zugleich Identität. Durch ihre hohen Decken und die großzügige Verglasung entwickeln die Innenräume New Yorker Loft-Charakter. Es stellt sich das Gefühl ein, Teil einer größeren Arbeitseinheit zu sein, deren Außenraum meist den Charakter eines teilöffentlichen Stadtraums hat.
Nicht nur wegen der räumlichen Möglichkeiten verblüfft es nicht, dass dabei sogar das Handwerk zurückkommt. In den Kreativfabriken findet sich neben der Kommunikationsarbeit zunehmend auch ausgewählte Handarbeit, im Sinne der rezenten Craft-Konsum-Wellen, vielleicht aber auch als Testfeld von dem, was neu unter dem Begriff „Industrie 4.0“ kursiert. In Form von noch intelligenterer Produktion sollen neben den Menschen auch die Maschinen und Ressourcen miteinander kommunizieren und digital so vernetzt (und gläsern) sein, dass sich dabei die Produktion des gewünschten Produkts so weit als möglich selbst organisiert, während es zugleich darum geht, ganz individuell den speziellen Kundenwünschen entsprechend zu produzieren. Nirgendwo wird die Rückkehr zum Handwerk für den anspruchsvollen Konsumenten heute schon augenscheinlicher gemacht als in der Automobilproduktion: In der Gläsernen Manufaktur im Zentrum von Dresden wird das Auto bei den letzten, eher symbolischen Fertigungshandgriffen nur noch mit Handschuhen berührt. Die Stilisierung gehört zum Ritual des finalen Produktionsprozesses, bei dem der Endverbraucher von Tribünen aus zuschauen darf.
Solche Kulturalisierung ehemaliger Fabrikfließbandarbeit könnte vielleicht ein Licht darauf werfen, wie sehr die ostentative Lokalisierung von postindustrieller Kreativarbeit in einer ehemaligen Fabrik – unter den Bedingungen der Auflösung von Arbeits- und Freizeitgrenzen, der Hinfälligkeit von untätigen Rauchpausen und des Übergreifens von Deadline-Druck auf Ess- und Schlafräume – heute eine symbolische, ja sogar kompensatorische Funktion erfüllt. Die Lokalisierung in der Fabrik spendet Trost: Es sieht aus, als wäre die Arbeit hier zu Hause.
Gabu Heindl ist selbstständige Architektin und Stadtplanerin, Lehrende und Kulturschaffende. Sie unterrichtete unter anderem an der TU Delft, am Berlage Institute in Rotterdam und an der TU Graz. Derzeit lehrt sie am Institut für Kunst und Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Seit 2013 ist sie Vorstandsvorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA). 2008 erschien ihr Buch Arbeit Zeit Raum. Bilder und Bauten der Arbeit im Postfordismus.
Fotos: Florian Voggeneder
25 Jahre lang hat Heidemarie Karolyi in der Tabakfabrikation gearbeitet. Doch die Tabakfabrik Linz war nicht nur Arbeitsort für die heute 52-Jährige. Auch Freundschaften und nicht zuletzt ihre
jetzige Beziehung nahmen in den Behrens-Bauten an der Donaulände ihren Anfang. Die Berliner Schriftstellerin Marianne Jungmaier hat das ehemalige „Maschin-Madl“ interviewt.
25 Jahre lang hat Heidemarie Karolyi in der Tabakfabrikation gearbeitet. Doch die Tabakfabrik Linz war nicht nur Arbeitsort für die heute 52-Jährige. Auch Freundschaften und nicht zuletzt ihre
jetzige Beziehung nahmen in den Behrens-Bauten an der Donaulände ihren Anfang. Die Berliner Schriftstellerin Marianne Jungmaier hat das ehemalige „Maschin-Madl“ interviewt.
Frau Karolyi, Sie verbindet eine lange Geschichte mit der Tabakfabrik Linz …
Ja, das stimmt. Meine Eltern haben dort gearbeitet. Mein Vater als Schlosser, meine Mutter als Maschinen-Bedienerin und mein älterer Bruder als Elektriker. Ich selbst bin in den Austria-Tabak-Bauten aufgewachsen, war dort im Betriebskindergarten.
War Ihnen immer klar, dass Sie für Austria Tabak arbeiten würden?
Nein, ich hatte keinerlei Ambitionen, zur Austria Tabak zu gehen. Aber ich habe als Kind meinen Papa in der Firma besucht, damals im Schwereisenlager. Die Mitarbeiter haben mich von klein auf gekannt. Immer wenn ich ein bisschen zu früh dran war, hat der Portier gesagt: „Schaust halt hinunter, weißt eh, wo der Papa ist!“ Und ich bin in die Firma gegangen. Das hat mir Spaß gemacht.
Wie kam der Sinneswandel?
Ich bin in die Europaschule gegangen, habe eine Ausbildung in der Gastronomie gemacht und war einige Jahre auf Saison. Eines Tages hat man wieder Leute gesucht, mein damaliger Mann und ich haben eine Familie geplant, und ich habe mich beworben. Am 3. November 1986 habe ich angefangen und am 27. Februar 2012 bin ich ausgeschieden.
Die ehemalige Fabrikarbeiterin Heidemarie Karolyi (links) im Gespräch mit der Schriftstellerin Marianne Jungmaier. Hier auf den Stufen vor dem Brucknerhaus an der Donau.
Was waren Ihre Aufgaben?
Ich wurde zuerst überall angelernt, wo man mich gebraucht hat, bei allen Maschinen. In der Endverpackung, im zweiten Stock bei den alten HL-Maschinen, im ersten Stock bei den X1- und X2-Produktionsmaschinen. Es gab auch noch die Protos-Maschinen, aber an denen habe ich nicht gearbeitet, da war mein Mann Mechaniker.
Sie haben Ihren Mann also in der Tabakfabrik kennengelernt?
(lacht) Oh ja, meinen derzeitigen Lebenspartner! Wir haben uns in der Arbeit kennengelernt. Wir waren zu der Zeit beide in Scheidung, ich kannte ihn als Maschinenschlosser. Man hat in der Pause oder im Ruheraum geplaudert, wir waren gemeinsam in der Rad- und Ski-Sektion, so hat sich das entwickelt. Jetzt sind wir seit 20 Jahren zusammen.
Wo haben Sie später gearbeitet?
Ich war jahrelang in der Telefonzentrale, dort hat man noch mit Knöpfen und Rufsystem verbinden müssen. „Guten Morgen, Austria Tabak, was kann ich für Sie tun?“ (lacht) Dann ist die neue Telefonzentrale gekommen, und ich habe in die Qualitätssicherung gewechselt. Das war meine längste Tätigkeit.
Wie kann man sich Ihren Alltag in der Abteilung Qualitätssicherung vorstellen?
Vor Beginn der Schicht hat man sich mit dem Kollegen abgesprochen, ob es Reparaturen oder Probleme gab, welche Sortenwechsel und Spezifikationen anliegen, dann hat man die Maschinen übernommen und losgelegt. Pro Schicht waren wir für vier oder fünf Anlagen verantwortlich, haben bis zu fünfmal täglich bei jeder Maschine die Zigaretten kontrolliert, also bei jeder Probe den Durchmesser nachgeprüft, Ventilations- und Härtemessungen vorgenommen, den Endenausfall geprüft und so weiter. Als ich angefangen habe, schrieben wir noch auf Zettel. Mit der ISO-Zertifizierung ist die Arbeit immer aufwendiger geworden. Zum Schluss haben wir nur noch mit dem Computer gearbeitet.
Wie war das für Sie, im Schichtdienst zu arbeiten?
Ich muss sagen, ich habe immer gern geschichtelt. Man hat dabei viel Tagesfreizeit. Zu Beginn gab es nur Früh- und Spätschichten, später hatten wir ein Wochenmodell: eine Woche Frühschicht, eine Woche Nachtschicht, eine Woche Nachmittagsschicht. Mich hat das nicht gestört. Die Nachtschichten gingen von Sonntagabend bis Freitagfrüh, also fünf Nächte lang. Als wir damit angefangen haben, war ich etwa 40 Jahre alt. Da steckt man das körperlich noch gut weg. Zum Schluss war es schon anstrengend. Man schläft nicht mehr so gut, bekommt Schlafprobleme. Aber darauf hat man sich halt irgendwie eingestellt. Sobald man ein gewisses Alter erreicht hatte, musste man nicht mehr springen, dann hatte man seine Maschine, seinen Schichtrhythmus. Jetzt allerdings bin ich froh, dass ich keine Nachtschicht mehr machen muss, weil der Lebensrhythmus dadurch doch durcheinanderkommt.
Haben Sie Ihre Arbeit in der Tabakfabrik gemocht?
Es war immer abwechslungsreich, man hat viel mit Menschen zu tun gehabt, das hab ich gern. Ich habe viel gesehen, viel gelernt. Ich hätte mir nie etwas anderes gesucht, wenn sie nicht zugesperrt hätten, das muss ich ehrlich sagen.
Wie haben Sie die Eigentümerwechsel erlebt?
Als staatlicher Betrieb waren wir immer ein Vorzeigewerk. Es ist viel Wert auf Sauberkeit, vor allem auf Maschinenreinheit, gelegt worden. Unter der Gallaher Group hat man gemerkt, dass sie auf Produktion aus waren, auf Profit. Da ist an allen Ecken und Enden gespart worden. Nicht bei der Produktion, aber bei den Grundreinigungen der Maschinen. Zuerst sind Nachtschichten eingeführt worden, dann sogar Vierer-Schichten, weil es so viele Aufträge gab. Wir hatten zu wenige Arbeiter, es wurden viele Leasing-Arbeitskräfte eingestellt.
Hat sich die Stimmung in der Fabrik dadurch verändert?
Ganz früher, am Faschingsdienstag, sind die Maschinen geschmückt worden, alle haben sich verkleidet, es gab Würstl vom Betriebsrat, Musik und Tanz, und nebenbei ist produziert worden. Das war schon schön. Bei Gallaher hat es das nicht mehr gegeben. Der Leistungsdruck ist höher geworden. An der Entlohnung oder der Arbeitsqualität hat sich aber nichts geändert. Auch die Stimmung unter den Mitarbeitern oder zu den Vorgesetzten war immer gut.
Also hatten Sie Freunde und Freundinnen unter den Kollegen?
Sicher! Es war immer familiär. Man hat sich doch untereinander schon gekannt, vom Kindergarten, von der Schule, vom Hof, über die Eltern. Es sind tolle Freundschaften entstanden, die man bis heute pflegt, sei es in Linz oder in Hainburg, wo ich nach der Schließung noch zweieinhalb Jahre weitergearbeitet habe.
Gab es mehr Männer oder mehr Frauen unter Ihren Kollegen?
Als ich begonnen habe, waren die Frauen die „Maschin-Madln“, wie man früher gesagt hat. Einige von uns haben sicher 15 oder 20 Jahre lang an einer Maschine gearbeitet. Die Männer hingegen waren alle Mechaniker. Zum Schluss sind fast nur noch Männer aufgenommen worden.
Wie hat sich denn die Firma um ihre Mitarbeiter gekümmert?
Es gab zum Beispiel eine schöne Betriebsküche, in der man günstig und sehr gut essen oder sich eine Jause holen konnte.
Sie haben auch eine Rad-Sektion erwähnt.
Da hat es noch viel mehr gegeben. Fußball, Tennis, Rad, Eisstockschützen. In jungen Jahren habe ich am ATW-Tennisplatz Tennis gespielt. Skifahren gehen wir heute noch, die JTI, die Japan Tobacco International, veranstaltet jedes Jahr im Jänner in Bad Hofgastein ein Ski-Treffen für ehemalige Mitarbeiter.
Und wie haben Sie das Gebäude empfunden, als Arbeitsplatz?
Wir hatten schöne Aufenthaltsräume, schöne Ruheräume, Garderoben. Jeder hatte einen Spind, man konnte nach der Schicht duschen, es gab Handtücher. Man bekam Arbeitsschuhe und Arbeitskleidung zur Verfügung gestellt. Die Schwachstelle des Gebäudes sind sicher an manchen Stellen die alten Doppelfenster, die waren manchmal undicht, nass, beschlagen. Aber durch den Denkmalschutz hat man das nicht ändern können. Ich habe mich immer wohlgefühlt dort.
Remix aus alt und neu, aus analog und digital. Mittels Siebdruckverfahren überlagerte die Künstlerin Bettina Gangl in ihrer Arbeit „DE-POT“ aktuelle Bilder der Tabakfabrik mit historischem Bildmaterial aus dem Archiv Austria Tabak.
Wie war das für Sie, als die Schließung publik wurde?
Das war nicht schön. Wir sind in der Früh in die Arbeit gegangen, da waren fremde Leute vor dem Gebäude, haben Zettel verteilt und gesagt, heute ist Betriebsversammlung. Keiner hat gewusst, was los ist. Alles war total geheim. Dann ist uns eröffnet worden, dass der Standort in Linz geschlossen wird. Wir waren schockiert. Dass sie Linz zusperren, hätte überhaupt niemand gedacht. Wir waren immer Österreichs Vorzeigewerk. Wir hatten Aufträge und bis zuletzt Überstunden und Vierer-Schichten. Es waren noch eineinhalb Jahre, bis die Produktion wirklich eingestellt wurde, aber man ist momentan ratlos, man weiß nicht, was man tun soll, wie es weitergehen soll. Mein Mann und ich, wir waren beide mit einem Schlag arbeitslos.
Gab es Hilfestellungen für Sie?
Man konnte im Zuge des Sozialplanes Umschulungen in Anspruch nehmen. Viele sind in den Vorruhestand gegangen oder in die Altersteilzeit. In Hainburg ist die Produktion weitergelaufen. Mein Mann und ich haben das Angebot angenommen, nach Hainburg zu gehen, kurz vor der slowakischen Grenze. Es war ein Riesenaufwand. Wir hatten dort eine kleine Wohnung, sind jedes Wochenende hin- und hergependelt, zweieinhalb Jahre lang. Wir haben geglaubt, dass wir dort in Pension gehen könnten. Dieser Wunsch hat sich nicht erfüllt.
Waren die Arbeitsbedingungen in Hainburg anders als in Linz?
In Linz war immer alles sehr strukturiert und geregelt. In Hainburg war es anders, chaotisch. Es ist so viel umgestellt worden. Sämtliche Spezifikationen, mit denen man jahrzehntelang gearbeitet hat, sind zwischen Weihnachten und 1. Jänner umgestellt worden. Plötzlich war alles neu und auf Englisch, weil das die Konzernsprache von JTI ist. Wir mussten von Maschine zu Maschine gehen und alles erklären. Das war am Anfang sehr mühsam. Im Nachhinein haben wir erfahren, dass es bei JTI schon damals ein Bauvorhaben in Polen gab. Als das Projekt fertig war, hat man den Betrieb in Hainburg eingestellt. Aber das wussten wir vorher nicht. Kurz vor Weihnachten war unser allerletzter Arbeitstag. Ich und mein Mann, wir haben die letzte Zigarette, die in Österreich produziert worden ist, mit unseren Kollegen hergestellt. Wir waren dabei.
Wie war es für Sie, ein Unternehmen, für das Sie die Hälfte Ihres Lebens gearbeitet haben, zu verlassen?
Den letzten Tag habe ich nicht schön in Erinnerung. Man war so viele Jahre dabei. Da hätte der Abteilungsleiter schon kommen können und sagen: „Tschüss, mach’s gut!“ Aber man hat seinen Spind ausgeräumt, ist gegangen und war weg. Ende. Es gab aber einen sehr guten Sozialplan in Hainburg. In Gallneukirchen habe ich eine Umschulung zur Fachsozial-betreuerin mit Schwerpunkt Behindertenbegleitung gemacht, außerdem den Computerführerschein und einen Photoshop-Kurs. Das war eine neue Chance. Jetzt arbeite ich als Computertrainerin mit jungen beeinträchtigten Menschen.
Besuchen Sie die Tabakfabrik denn auch als Ehemalige?
Zweimal im Jahr haben wir unser Ehemaligen-Treffen – im Frühling und im Herbst. Chris Müller, der Leiter des Kulturzentrums, begrüßt uns jedes Mal. Man erfährt immer wieder Neues. Ich gehe gerne zu Veranstaltungen in der Austria Tabak. Das sind auch gute Gelegenheiten, um Arbeitskolleginnen oder Freundinnen von früher zu treffen.
Wie gefällt Ihnen, was daraus gemacht wird?
Ich finde es sehr gut, dass sie ein Kulturzentrum daraus gemacht haben. Auch der Neubau, in dem man kleine Büros mieten kann, gefällt mir sehr gut. Aber es steht noch so viel leer.
Wie ist das heute für Sie, wenn Sie die Tabakfabrik betreten?
Eine Zeit lang habe ich es gemieden, jetzt gehe ich gerne wieder hinein. Aber Wehmut hat man immer.
Fotos: Dietmar Tollerian
Siebdruck-Bilder: Bettina Gangl
Maik Novotny
Neue Wege in den wilden Osten
Linz bekommt eine neue Straßenbahnstrecke.
Was heißt das für die Stadt? Was heißt das für den Linzer Osten?
Eine Art Analyse mit Kuddelmuddel.
Die von Nord nach Süd verlaufende Verkehrsachse zwischen Mühlkreisbahnhof und Hauptbahnhof,
an der sich die Linzer Altstadt fein säuberlich auffädelt, bekommt einen Zwilling.
Diese neue Achse wird sich mit der Kulturmeile an der Donaulände
exakt in der Tabakfabrik kreuzen.
Linz bekommt eine neue Straßenbahnstrecke.
Was heißt das für die Stadt? Was heißt das für den Linzer Osten?
Eine Art Analyse mit Kuddelmuddel.
Die von Nord nach Süd verlaufende Verkehrsachse zwischen Mühlkreisbahnhof und Hauptbahnhof, an der sich die Linzer Altstadt fein säuberlich auffädelt, bekommt einen Zwilling. Diese neue Achse wird sich mit der Kulturmeile an der Donaulände exakt in der Tabakfabrik kreuzen.
Ich gestehe: Ich habe ein Problem mit Linz. Es ist ein vergleichsweise winziges Problem, doch es ist ihm praktisch nicht auszuweichen. Anders als in den meisten Städten werden in den Linzer Straßenbahnen und Bussen die Haltestellen nicht von flötenden oder aseptisch computergenerierten Damenstimmen eingesprochen, sondern von einem bierwerbungsguttural dröhnenden, geradezu sittenstrolchhaft heiseren Herrn.
Jedes Mal, wenn beim Durchmessen der Landstraße die Ansage „Kinderkulturzentrum Kuddelmuddel“ ertönt, zucke ich zusammen. Hätte ich Kinder, ich würde sie in diesem Moment fest bei der Hand nehmen und mit den Worten „Tut nicht, was der böse Mann euch sagt!“ am Aussteigen hindern. Das Problem ist nur: Alle Straßenbahnlinien fahren auf ihrem Weg von Nord nach Süd und von Süd nach Nord an diesem Kinderkulturzentrum Kuddelmuddel vorbei. Denn Linz ist geradezu empörend westlastig.
Und das kommt so: Eine immer wieder gern in Umlauf gebrachte Theorie besagt, dass in den Städten Mitteleuropas die attraktiveren Viertel im Westen und die „schmutzigen“ im Osten zu finden sind. Der Grund dafür sind die meist von Westen wehenden Winde, die vor allem in den Zeiten der Industrialisierung reichlich Unschönes und Ungesundes gen Osten pusteten. Die Slums und Müllhalden des Londoner East End belegten diese Theorie bis zum olympiabedingten Strukturwandel vor wenigen Jahren noch in eindrucksvoller Weise. Versetzt man einen Wien-Döblinger ins äußerste Simmering, zwischen Kläranlage, Hafen und Müllverbrennungsanlage, wird er dieser Theorie auch heute noch eifrig nickend zustimmen.
Einem Linzer wird es nicht anders ergehen: Die Stadt wandelt ihr Gesicht von West nach Ost so konsequent wie Dr. Jekyll das seine zu Mr. Hyde. Hier Barockidyll, Schlossberg, Alter Dom, Hauptplatz mit gediegen flanierenden Anwälten und Beamten, dort Autobahn, Hafen, Industriegleise, Gewerbehallen, Restflächen, ungenutzte Brachen. Im Westen die Schauseite, im Osten die Kehrseite. Im Westen die polierte Karosserie, im Osten das Fahrwerk, das die ganze Stadt vorantreibt.
Auch die Donau vollzieht diesen janusköpfigen Persönlichkeitswandel auf ihrem Weg durchs Linzer Stadtgebiet. Im Westen taucht sie romantisch-arkadisch aus den bewaldeten Hügeln auf, unterquert dann die Nibelungen- und die Eisenbahnbrücke, bis sie sich schließlich im Osten zum reinen Verkehrsweg ergießt, zu einer Wasserstraße, die keine Zeit für Idylle hat. Im rechten Winkel zum Fluss durchmisst die Landstraße als Nord-Süd-Achse den Dr.-Jekyll-Teil der Stadt, als traditionelles Rückgrat und heute als mit Abstand wichtigste Verbindungsachse des öffentlichen Nahverkehrs zwischen Hauptbahnhof, Stadtzentrum und Urfahr.
Versucht man, den Abstufungen dieser West-Ost-Verwandlung zu Fuß nachzuspüren, gerät man bald nach dem Pfarrplatz in eine seltsam gesichtslose Grauzone, in eine Übergangswelt, die weder von barockem Gestaltungswillen noch von rein funktionalen Sachzwängen maßgeblich geformt wurde. Eine Blockbebauung, die sich langsam auflöst in verstreute Wohnblocks aus allen Phasen der letzten hundert Jahre. Und dann Krankenhäuser, Hochschulbauten, Gewerbegebiete, klassisches Stadtrandzubehör.
Das alles wird sich ändern. Denn Linz hat seinen Osten entdeckt und stellt die Weichen für die Pioniere. Die Nord-Süd-Achse über Nibelungenbrücke und Landstraße, auf der der öffentliche Nahverkehr bereits an die Kapazitätsgrenzen stößt, bekommt schon bald einen Zwilling im Osten. Über 100 Millionen Fahrgäste pro Jahr nutzen die öffentlichen Verkehrsmittel, mit mehr Arbeitsplätzen als Einwohnern drängen sich morgens und abends die Pendler in die Innenstadt, die Straßenbahnen fahren zur Stoßzeit im 50-Sekunden-Takt durch die Landstraße, und schon die geringste Störung führt zu Staus.
Ende 2014 einigten sich Stadt und Land über die Trassenführung für die „zweite Tramachse“, die geplante Linie 4. Die 4,7 Kilometer lange Strecke wird vom Mühlkreisbahnhof im Norden bis zum Bulgariplatz im Süden verlaufen und dabei sowohl die Donau als auch die Westbahntrasse queren. Erschlossen werden damit vor allem die Wohngebiete im Osten sowie neue Stadtviertel wie etwa die „Grüne Mitte Linz“. Der mittlere Trassenbereich entlang der Gruberstraße wird unterirdisch verlaufen – aus Platzgründen. Und weil es schneller geht. Ein Kilometer Tunnel verkürze die Fahrzeit von mindestens fünf auf nur noch eineinhalb Minuten. Man brauche weniger Fahrzeuge und erspare sich Folgekosten, heißt es bei der Linz AG.
Ein kritisches Hindernis hatte die Planung jedoch zu überwinden: die Querung der Donau. Auch diese letzte große Frage der neuen Verkehrsverbindung konnte jetzt beantwortet werden. Die Linzer Eisenbahnbrücke aus dem Jahr 1900, mehrfach unter Denkmalschutz gestellt und letztendlich wieder entdenkmalisiert, wird – trotz langjähriger Bemühungen von Bürgern und Vereinen – definitiv abgerissen. Bei einer Abstimmung am 27. September 2015 sprachen sich 68 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für den Abriss aus. Den Entwurf für die neue Brücke hatten sie schon 2014 präsentiert bekommen: Er stammt vom Pariser Ingenieurbüro Marc Mimram.
Die neue Bogenbrücke wird Fußweg, Fahrbahn und Straßenbahn aufnehmen, nachdem die genietete Eisenkonstruktion der alten Brücke aufgrund von Salzschäden als nicht mehr sanierbar gilt. Der rund 50 Millionen Euro teure Neubau wird frühestens im Jahr 2020 befahrbar sein. Das ist auch der Zeithorizont für die Inbetriebnahme der zweiten Tramachse.
Auch noch weiter im Osten stehen die Zeichen auf Wandel. Am 7. Juli 2014 beschloss die Linz AG den Masterplan für den Linzer Hafen. Anders als in vielen Städten, die ihr industrielles Zeitalter komplett hinter sich gelassen haben und ihre Hafengebiete in Richtung Dienstleistung und Kultur umpolen, sollen in Linz, dessen Hafen ein unvermindert großer Wirtschaftsfaktor für die Stadt ist, Kultur und Industrie gleichzeitig vorangetrieben werden. Genauer gesagt: übereinander. Denn der Masterplan mit dem Entwurf der Wettbewerbssieger Luger & Maul Architekten aus Wels sieht eine rund 10.000 Quadratmeter große „Kulturplattform“ in 12 bis 18 Metern Höhe vor, die gemeinsam mit einem „Hafenturm“ und einem „Hafenportal“ sowie dem benachbarten Posthof eine Kulturachse bilden soll. So bietet sich von oben ein industrieromantischer Panoramablick, während auf Bodenebene die Logistik- und Dienstleistungsbetriebe ganz prosaisch ihren gesicherten Zugang zur Wasserfläche behalten. Bürgermeister Klaus Luger sieht im Projekt „eine Neuorientierung der Stadt mit dem Schwerpunkt Linzer Osten“.
Baubeginn für das 273-Millionen-Euro-Paket im Linzer Hafen ist 2016. Im Jahr 2024 will man mit dem Gesamtprojekt fertig sein. Ein reines Industriegebiet ist der Hafen ohnehin nie gewesen. Von jeher ist der Linzer Osten auch ein Wohngebiet – wiewohl mit exklavenartig isolierten Arbeiterwohnvierteln. „Im Hafengebiet gibt es, inmitten von bestehenden Betrieben, teils jahrzehntealte Pionierwohnungen. Langfristig wird die Wohnnutzung aber sicherlich noch zunehmen“, sagt Gunter Amesberger, Planungsdirektor der Stadt Linz. „Genauso gibt es im Bereich der Tabakfabrik – ein herausragendes Beispiel, was die Größe der Aufgabe und die Auswirkungen auf die Stadt betrifft – Flächen für eine Umnutzung. Aber das ist ein Stadtteil, der sich über Jahrzehnte entwickeln muss.“
Die Größe der Aufgabe ist keineswegs untertrieben. Zeichnet man die bis zur Hafenkante erweiterte Ost-West-Linie der Kulturachse und die Nord-Süd-Linie der neuen Tramachse auf, liegt die Tabakfabrik exakt im Kreuzungspunkt. Was auch immer im Linzer Osten passieren wird, es wird die Nutzung des Areals massiv beeinflussen. Die Entwicklungen in der Tabakfabrik werden in alle Himmelsrichtungen ausstrahlen.
Wird die Tabakfabrik, neben der die Linie 4 voraussichtlich in den Tunnel abtauchen wird, ihre eigene U-Bahn-Haltestelle bekommen? Wird die Gruberstraße als Nord-Süd-Verkehrsachse gar zur zweiten Landstraße, als Rückgrat eines neuen ostwärts gerichteten Stadtviertels? Dann wäre die Tabakfabrik in diesem kulturell-infrastrukturellen Achsenkreuz der Dreh- und Angelpunkt.
Oder bleibt der Linzer Osten eine verinselte Stadtlandschaft, die von Verkehrsachsen mehr zerschnitten als vereinheitlicht wird? Eine Stadtlandschaft, die zwar kein einheitliches Gesicht hat, aber in der es viel zu entdecken gibt? Keine Kulturachse also, sondern ein Dächermeer mit Kulturinseln? Dann wäre die Tabakfabrik genau eine solche Insel, ein Tabakfabriksviertel mit eigener Identität.
Beide Wege würden Chancen und Gefahren bedeuten. Auf welchen Weg auch immer die Verkehrsplanung abbiegt: Dass im zukünftigen Linz die alten Theorien vom West-Ost-Gefälle nicht mehr gelten werden, darf als gesichert angesehen werden. Und ich bekomme endlich meine Ausweichroute zum Kinderkulturzentrum Kuddelmuddel. Eine Haltestelle namens „Tabakfabrik“ darf schließlich allein schon aus nostalgischen Gründen von heiseren Männerstimmen angesagt werden.
Maik Novotny, der noch mit einem weiteren Artikel im ZYNDSTOFF vertreten ist, ist leidenschaftlicher Stadtschreiber und Stadtdenker. Im Osten ist er Vollprofi. 2007 erschien sein Buch Eastmodern über Architektur der 1960er- und 1970er-Jahre in der Slowakei (mit Benjamin Konrad und Hertha Hurnaus). Wir nominieren ihn als Tabakfabrik-Haltestellen-Ansagestimme.
Illustrationen: Johanna Wögerbauer
Die Zeit der Zigaretten ist lange vorbei. Heute wird in der Tabakfabrik Linz
Kreativität produziert. In den kommenden Jahren soll die Produktion noch
deutlich verstärkt werden, sagt Chris Müller, Direktor und künstlerischer
Leiter der Tabakfabrik. Seine Vision: "Ein linziges Kreativlabor für 007, Jean
Paul Belmondo und Co." Gespräch mit einem melancholischen Pionier.
Die Zeit der Zigaretten ist lange vorbei. Heute wird in der Tabakfabrik Linz Krea-tivität produziert. In den kommenden Jahren soll die Produktion noch deutlich verstärkt werden, sagt Chris Müller, Direktor und künstlerischer Leiter der Tabakfabrik. Seine Vision: „Ein linziges Kreativlabor für 007, Jean-Paul Belmondo und Co.“ Gespräch mit einem melancholischen Pionier.
Rauchen Sie?
Nicht mehr. Vor zwölf Jahren, als ich mit meiner Frau erstmals darüber nachgedacht habe, Kinder zu kriegen, bin ich in den Keller gegangen, um meine inneren Dämonen zu bekämpfen. Einer dieser Dämonen war meine Nikotinsucht.
Wie stehen Sie ganz allgemein zur Rauchkultur?
Gespalten. Persönlich muss ich meist an Krebs und Christoph Schlingensief denken. Dennoch verstehe ich das Rauchen als wichtigen Bestandteil unserer Kultur. In Anlehnung an Valie Export und ihre berühmte Arbeit mit dem Zigarettenpackerl habe ich mich während meines Studiums als Willi Import bezeichnet. Damals war Rauchen noch eine ziemlich coole Angelegenheit. Man wurde angeschaut, wenn man die Tschick im Mundwinkel oder hinterm Ohrwaschl hatte, Lederjacke und Creepers inklusive. Wir waren wilde Rebellen! Ein bissl so wie Jean-Paul Belmondo.
In der Tabakfabrik, von der ich träume, arbeitet man nicht nebeneinander, sondern miteinander.
Was haben Sie empfunden, als Sie das erste Mal über das Gelände der Tabakfabrik marschiert sind?
Das war am Tag der Aufnahmeprüfung für die Kunstuniversität Linz – das Institut für bildende Kunst war ja zehn Jahre lang in der Fabrik eingemietet. Die Größe des Geländes und des für mich immens wichtigen Moments haben sich verdichtet und als Gefühl eingeprägt. Ich weiß noch, dass ich mich umgesehen und gesagt habe: „Du lieber Gott, wenn’s dich gibt, dann mach dich bitte genau jetzt bemerkbar!“
Und wo war Gott, als Sie 2009 als designierter Direktor, als künstlerischer Leiter zurückgekehrt sind?
Ich war allein da. Ich bin herumstrawanzt, in den Hallen hatte ich das Gefühl, ich hätte einen Atomunfall überlebt. Und dann kann ich mich noch genau erinnern, wie ich im Kraftwerk im ersten Stock die Tür vom Büro des ehemaligen technischen Leiters aufgemacht habe. Ein wunderschöner Raum mit riesengroßen Fenstern zum Hof, da war der Schreibtisch mit Ordnern, mit Papierstapeln, mit diversen Schlüsseln und mit Kaffeetassen samt verdunstetem Kaffee, über allem lag der Staub, bloß an den Abdrücken im Holzfurnier hat man gesehen, dass scheinbar die Familienfotos gerade eben mitgenommen wurden. Das war einer der Gänsehaut-Momente im Leben. Das war wie ein schmerzvoller Geist, der hier weilte. Wie eine Wunde, die nach Tabak riecht und die nicht mehr weggeht.
„Was ich sehe, sind Hunderte, sind Tausende Menschen, die diesen Ort als Zentrum der Kreativwirtschaft aufsuchen, die hier lernen, studieren und arbeiten.“ Chris Müller in seinem Büro in der Tabakfabrik.
Ist diese Verwundung, dieses Kaputte, das Sie hier vorgefunden haben, eine Bremse für die künftige Entwicklung der Tabakfabrik? Oder eher ein Antriebsmotor?
Im Nachhinein kann man sagen, ohne zynisch sein zu wollen, dass es ein großes Glück war. Wir Kreativen sind die Kriegsgewinnler, diejenigen, die es geschafft haben, aus dem zerstörten Nichts wieder etwas Neues aufzubauen. Als Spross einer Bergarbeiterdynastie weiß ich: unter Druck werden Edelsteine geboren.
In einem Interview haben Sie einmal André Malraux zitiert: „Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern.“ Was können wir aus der Lektüre der Geschichte der Tabakfabrik lernen?
Zum Beispiel, dass der wahre Zusammenhalt aus dem scheinbar Unwichtigen, dem scheinbar Nebensächlichen besteht. Zu Zeiten von Austria Tabak gab es hier Freizeit-Clubs und Sportvereine, Sektionen für Menschen mit gewissen Interessen, gemeinsame Ausflüge, Urlaube in der Gruppe und so weiter. Man braucht Räume, in denen das Arbeiten eine Auszeit nehmen darf. Man braucht Begegnungszonen, in denen aus der Konkurrenz Kooperation wird oder bestenfalls sogar Kollaboration. Das war damals so, und das wird auch in Zukunft so bleiben. Das habe ich unter anderem aus der Lektüre der Tabakfabrik lernen können.
Haben Sie ein Lieblingseck im Gebäude?
Ja, sehr viele. Und das ändert sich mit jedem Tag.
Das war jetzt die Antwort eines Politikers, nicht die eines künstlerischen Leiters.
Dann würde ich als künstlerischer Leiter sagen: Es ist die Gesamtheit, die soziale Plastik im Sinne von Joseph Beuys. Das ist jetzt auch nicht das, was Sie hören wollen, oder?
Geistig und architektonisch unter unseren Verhältnissen zu leben, ist keine Option für diesen Ort.
Wenn Sie sich also in diese Beuys’sche Plastik hineinversetzen, wenn Sie an diesem Ort gedanklich in die Zukunft reisen, sagen wir ins Jahr 2030 … Was sehen Sie da?
Was ich sehe, sind Hunderte, sind Tausende Menschen, die sich hier über die Gesellschaft informieren, die diesen Ort als Zentrum der Kreativwirtschaft aufsuchen, die hier bestenfalls lernen, studieren, arbeiten, sich am Wissens-transfer beteiligen. Im ehemaligen Kraftwerk mit all den Maschinen und Turbinen – das ist unser Plan – soll ein Hörsaalzentrum entstehen. Früher wurde hier Energie im Sinne von Watt produziert. In Zukunft soll hier Energie im Sinne von Innovation entstehen.
Eine Art europäisches Silicon Valley also?
Im Silicon Valley geht’s ausschließlich um Produktion. Auf Bildung und Ausbildung wird dort geschissen. In der Tabakfabrik habe ich einen ausgewogenen, kybernetischen Kreislauf vor Augen. Eine europäische Modellfabrik, eine Linzer Resilienz-Factory.
Im Postindustrialismus wurden weltweit Tausende Fabriken und Produktionsbetriebe aufgelassen. Viele davon wurden in Kulturareale konvertiert. Gibt es unter all den Beispielen ein Projekt, das Sie in Ihrer Arbeit inspiriert, das auf bestimmte Art und Weise besonders gut gelungen ist?
Es gibt viele schöne Beispiele weltweit, keine Frage. Aber an diesen Beispielen haben wir uns nicht orientiert. Es ging nie darum, ein woanders funktionierendes System in Linz zu implementieren, sondern darum, etwas typisch Linziges entstehen zu lassen, das mit dieser Stadt arbeitet und das nur hier sein kann und nirgendwo sonst – auch wenn das jetzt ein bissl pathetisch klingen mag.
„Die Soziologie der Stadt und des Fabrikareals verlangt nach Mut, Tatendrang und Risikobereitschaft. Der Startschuss dafür muss laut sein und internationales Echo erzeugen.“
Zu Beginn haben viele Leute gefragt: „Wird das so was wie das Wiener Museumsquartier? Oder doch mehr so eine Art Spinnerei in Leipzig?“
Weder noch! In der Tabakfabrik, von der ich träume, arbeitet man nicht nebeneinander, sondern miteinander – wir sprechen hier vom ersten kollaborativen Konzern der Welt.
Ist das jetzt Optimismus oder Utopie?
Das ist meine Realität. Sonst könnte ich meinen Job nicht so machen, wie ich ihn mache. Die Tabakfabrik Linz wird die erste Fabrik sein, die Kreativität produzieren wird. Und da braucht es eben nicht nur die Hardware eines Silicon Valley, eines Museumsquartiers, einer Leipziger Baumwollspinnerei, sondern vor allem die dazu passende Software. Mit einem Wort: Hier, wo wir jetzt sitzen, wird es eines Tages eine Fabrik geben mit Jobs, von denen wir heute noch nicht einmal eine Ahnung haben, dass wir sie brauchen könnten, geschweige denn, dass es sie geben wird.
In der Immobilienbranche hat man für solche zukunftsorientierten, mitunter zukunftsungewissen Prozesse, von denen wir hier sprechen, den Begriff der Zwischennutzung eingeführt. Kränkt Sie das?
Überhaupt nicht. Der Begriff ist bei uns nur total falsch und hat uns viel Ärger eingebracht. Der Begriff Zwischennutzung impliziert in den meisten Fällen nämlich, dass alles, was jetzt gemacht wird, ein Ablaufdatum hat und ersetzt wird, sobald etwas Besseres nachkommt. Das ist bei uns nicht der Fall. Das, was jetzt gemacht wird, ist bereits eine große, wertvolle Vorbereitung für die Zukunft.
Welcher Begriff wäre denn besser geeignet?
Pioniernutzung. Oder vielleicht Initialnutzung. Das ist es eigentlich, was hier stattfindet. Immerhin arbeiten auf dem Areal bereits 340 Menschen! Autopoietische Systeme und Versuchsfelder brauchen Freiräume und Initialnutzung. Freiräume, die Freiheit durch Raum und nicht Freiheit von Raum bedeuten.
Was kostet so eine Zwischen- oder Pioniernutzung im Fall der Tabakfabrik Linz?
Lebenszeit.
Und monetär?
Der Betrieb und die Vermietung schreiben bereits schwarze Zahlen – und das, obwohl wir noch 80 Prozent Freiraum haben und diesen noch bespielen und befüllen müssen. Was die Entwicklung der Tabakfabrik betrifft, so belaufen sich die Kosten derzeit auf zwei Millionen Euro pro Jahr. 1,55 Millionen Euro davon bringen wir selbst auf. Die restlichen 450.000 Euro kommen von der Stadt Linz.
Müsli und Milchkaffee in solchen Räumlichkeiten könnten schmecken. Idee für Shop und Café im Bau 1.
Bei jeder Konvertierung gibt es die Gefahr, dass sie zu stark, zu plötzlich, zu fremdbestimmt über die Bühne geht. Was sind die Ideen, um dem zu entgehen?
Die Gefahr besteht. Keine Frage. Und ob alles so gelingt, wie wir uns das vorstellen, hängt an vielen unterschiedlichen Faktoren, nicht zuletzt auch an der Personalstärke.
Gab es schon verlockende Angebote von Projektentwicklern und Investoren, von Immobilienhaien, die Ihnen das Areal in einem Stück abkaufen wollten?
Diese Angebote gibt es, ja.
Sprechen wir da von schönen Summen, die Ihnen geboten werden?
Ja.
Werden Sie jemals schwach?
Nein. Geistig und architektonisch unter unseren Verhältnissen zu leben, ist keine Option für diesen Ort. Es liegt in der Natur einer Kreativfabrik, sich mit den Investoren und Architektinnen zu reiben und auf konstruktiver Ebene vielfältige, hochwertige Lösungen zu erarbeiten. Wissen Sie, Reibungshitze kann man gut gebrauchen, wenn man ein Leuchtfeuer einer neuen Moderne entzünden möchte.
Wie soll dieses Leuchtfeuer aussehen?
Die Soziologie der Stadt und des Fabrikareals verlangt nach Mut, Tatendrang und Risikobereitschaft. Der Startschuss dafür muss laut sein und internationales Echo erzeugen. Er muss aus einem Colt kommen, wie ihn Dirty Harry, Lara Croft oder auch Jean-Paul Belmondo in einem seiner Filme verwenden würden.
Was heißt das für die Investoren und Architektinnen?
Ganz einfach: Liebe Investoren, liebe Bauherren und Baufrauen, liebe Architekten und Architektinnen, präsentiert uns Prototypen und nicht Katalog- und Lagerware! Geht nicht ins Archiv, sondern ins Labor! Verschont uns mit Nachhaltigkeit und erfreut uns stattdessen mit Vorhaltigkeit! Seid nicht gierig, sondern neugierig! Seid nicht 08/15, sondern zumindest 007! Und gebt uns Antworten auf der Höhe der Zeit – und nicht den tausendsten zeitlosen Kompromiss.
Sie träumen von was ganz Großem.
Da halte ich es mit dem Volksmund: „Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben!“ Ich bin mir dessen bewusst, dass die Tabakfabrik, von der ich träume, kein singuläres Allheilmittel ist, aber sie kann Rahmenbedingungen schaffen. Sie ist ein Motor für die Wirtschafts- und Stadtentwicklung und für Linz ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Und die wäre?
Ich sehe Linz als „The First of the Second Cities“. Die meisten mittelgroßen Städte sind von Brain-Drain betroffen, also von intellektuellem Verlust, weil viele ausgebildete Menschen nach dem Studium oder zu einem gewissen Zeitpunkt in ihrer Karriere in die Großstädte auswandern. Linz hat aufgrund seiner kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen meiner Meinung nach das Ding, um unter den Second Cities federführend zu sein. Aber dazu braucht es richtigen Wettbewerb! Hier ist die Avantgarde gefragt.
Wie lange wird es dauern, bis dieser Umstrukturierungsprozess abgeschlossen sein wird?
Die städtische Entwicklung wird noch ein bisschen andauern. Doch da bin ich optimistisch. Und was die Weiterentwicklung der Tabakfabrik betrifft, müssen wir die aktuelle Legislaturperiode, also die nächsten sechs Jahre, die der aktuellen Stadtregierung zur Verfügung stehen, bestmöglich nutzen. Ein großer Schritt wird der Bau der zweiten Straßenbahnachse sein. 2017 wird die Straßenbahn errichtet. 2019 soll die erste Garnitur hier stehen bleiben – neun Millionen Fahrgäste pro Jahr werden bei uns aus- und einsteigen. Bis zu diesem Zeitpunkt wird ein Teil des Projekts abgeschlossen sein müssen.
Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Hier. Genau hier. Als Spaziergänger. Ich werde Besucher sein und mich über das ärgern, was nicht gelungen ist, und mich über das freuen, was sehr wohl gelungen ist. Ich werde mich ins Café setzen, die Lehrlinge beobachten und tief in mir drinnen glücklich sein.
Sie haben einen schönen, aber auch brutalen Job. Wenn Sie künftig Ihr Programm mit Erfolg durchgeboxt haben, wird Ihre Arbeit zu Ende sein. Ist es schmerzhaft, so ein Ablaufdatum vor Augen zu haben?
Man wickelt sich selber ab … Ob’s schmerzhaft ist, weiß ich nicht. Entwicklung hat immer auch damit zu tun, dass sie eines Tages abgeschlossen sein wird und das Leben einen anderen Fortgang nimmt. Für mich hat das am ehesten mit Melancholie zu tun. Aber das passt in mein Lebenskonzept. Ich bin ohnehin eher der melancholische Typ, ich höre Johnny Cash und Adele, ich mag Wanda. Aber was für eine großartige Aufgabe! Wie demütig darf man da sein! Mit Stolz und Genuss werde ich eines Tages also sagen: „Danke, des woar’s!“
Fotos: Andreas Kepplinger
Visualisierungen: sonaar
Maik Novotny
Quantensprung in die moderne
Ein Spaziergang durch die Geschichte der Tabakfabrik
Ein Hightech-Gesamtkunstwerk, ein Prachtstück der Neuen Sachlichkeit, eine Ikone der Innovation:
Die von Peter Behrens und Alexander Popp entworfene Tabakfabrik kann auch
heute noch als Vorbild für Gewerbearchitektur gelten.
Ein Spaziergang durch die Geschichte der Tabakfabrik
Ein Hightech-Gesamtkunstwerk, ein Prachtstück der Neuen Sachlichkeit, eine Ikone der Innovation: Die von Peter Behrens und Alexander Popp entworfene Tabakfabrik kann auch heute noch als Vorbild für Gewerbearchitektur gelten.
Banane, 226 Meter lang, 1935 eröffnet. Blick vom Innenhof auf Stiegenhäuser und Lüftungsanlage.
Mit der Industrieromantik ist es so eine Sache. Der innere Widerspruch ist schon im Begriff versteckt: Im Zustand des Vollbetriebs waren und sind Industriebauten für die in ihnen Arbeitenden – ob im viktorianischen England oder im heutigen Bangladesch – in der Regel alles andere als idyllische Paradiese. Wo heute allerorts „Kulturfabriken“ in ehemaligen Werkshallen oder Schlachthöfen mit stahlnietiger Maschinenästhetik zum bequemen Kunstgenuss laden, herrschten früher Gestank, Gefahr, Arbeitertristesse und Akkordmonotonie. Für den Besucher aus der fugenlos digitalisierten Gegenwart sind es Zeugen eines früheren, von purer Physik geprägten Zeitalters.
In Österreich findet sich wohl kaum ein Ort, der mehr von dieser Ära geprägt ist als Linz. Doch zwischen barocker Altstadt und grauen Stahlwerksschloten liegt ein Industriebau wie ein schnittiger weißer Dampfer parallel zur Donau, der so gar nicht in dieses Bild der rußig-ruppigen Romantik passt. Und das, obwohl dort ausschließlich Produkte hergestellt wurden, die dem Erzeugen von teerigem Rauch dienten – die Linzer Tabakfabrik.
Das stattliche Gewerbeensemble ist in jeder Hinsicht eine Besonderheit: Entstanden zu einer Zeit, als das Industriezeitalter schon seinem Ende zuging, entworfen von zwei Architekten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Einerseits von einem progressiv-liberalen Deutschen mit langer erfolgreicher Karriere, andererseits von einem jungen rechtsnationalen Österreicher mit eifrigem Ehrgeiz. Es ist eine beispielhafte Geschichte von Innovation und ganzheitlicher Denkweise.
Links: Abtransport der Fertigware in Transportkartons (1950), Rechts: Zigarettenfabrikation; Tabakbeschickungsapparat (1950)
Doch von Anfang an. Begonnen hat die Geschichte des Tabaks schon lange vor der Industrialisierung. 1701 wurde von Kaiser Leopold I. das österreichische Tabakmonopol dekretiert. 1723 folgte die erste Fabrik in Hainburg an der Donau. Im Jahr 1850, im aufdämmernden Industriezeitalter, folgte der zweite Standort in Linz in der bisherigen Wollzeugfabrik. Die k.k.-interne Textilkonkurrenz in Böhmen war zu übermächtig geworden, man musste an der Donau auf andere Wirtschaftszweige setzen. Heute würde man das „offensive Standortpolitik“ nennen.
Die Produktionsgeschichte der Tabakfabrik liest sich wie ein Sozialpanorama des späten Kaiserreichs am Übergang zur Neuzeit. Zuerst wurden nur Zigarren produziert (Statussymbole für das aufstrebende Bürgertum), ab 1904 dann, pünktlich zum Jahrhundert der Massenmobilisierung und der Konsumgesellschaft, kamen auch Zigaretten ins Sortiment. Die ersten Markennamen spiegelten das Zeitalter von national-nervöser, überreizter Hysterie und modernem Hygienebestreben. Sie hießen „Drama“ und „Sport“.
Schon fünf Jahre später wurden in Linz bereits 330 Millionen Glimmstängel produziert. Während des Ersten Weltkriegs musste aufgrund des Rohstoff-engpasses mit Buchenlaub und Hopfen gestreckt werden. Mit dem Ende der Monarchie war auch die Ära des reichen Bürgertums vorbei. Ab 1923 wurden keine Zigarren mehr hergestellt, doch dafür stieg von nun an der Zigarettenbedarf für die breite Masse rasant an. 1928 waren es schon eineinhalb Milliarden im Jahr.
Kein Wunder, dass die Mauern der barocken Wollfabrik dieser Massenerzeugung nicht mehr gewachsen waren. Ein Neubau musste her, und der Neubau, den Linz bekam, war geradezu ein Quantensprung in die Moderne: 80.000 Quadratmeter Nutzfläche, ausgelegt für eine Jahresproduktion von drei Milliarden Zigaretten, inklusive Tabakspeicher und separater Pfeifentabakfabrik, mit dem elegant gebogenen, 226 Meter langen und sechs Etagen hohen Bau für die Zigarettenfabrik als Kernstück und Rückgrat.
Die charakteristische Krümmung von Bau 1 hatte die Absicht, den Raum menschlicher erscheinen zu lassen, und sollte bewirken, dass man nie das Ende sah und sich stets in der Nachbarschaft des Gebäudes wohlfühlte.
Für die Arbeiterinnen (es waren hauptsächlich Frauen beschäftigt) muss sich der plötzliche Wechsel vom barocken Gemäuer in die neue Fabrik, die am 12. November 1935 eröffnet wurde, wie ein Umsteigen von einer Droschke in einen klimatisierten Sportwagen angefühlt haben. Denn die neue Tabakfabrik profitierte von der weiterentwickelten Technologie und Arbeiteremanzipation der Zwischenkriegszeit und bot einen innovativen Komfort, der vermutlich sogar Karl Marx ein kurzes anerkennendes Nicken entlockt hätte.
Was hier entstand, lässt sich ohne Zweifel als lupenreines Gesamtkunstwerk bezeichnen. Praktisch alles, was in Gewerbebauten zwischen Brooklyn und Shanghai heute als innovativ angepriesen wird, war 1935 schon vorhanden: hochentwickelte Gebäudetechnologie mit Sonnenschutz, Brandschutz und eigens entwickelten, perfekt schließenden Fenstern mit Zweifachverglasung und einer Ableitung für Kondenswasser. Schließlich benötigte der sensible Tabak eine konstante Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent.
Als Marketing-Draufgabe gab es damals schon eine komplette Corporate Identity mit eigenem Farbton namens „Linzer Blau“, eigener Typografie und sogar eigens entworfenen Stahlrohrsesseln für die Arbeiterinnen. Das Resultat war ein Gesamtkunstwerk im Bauhaus’schen Sinne. Die Langlebigkeit der hochwertigen Materialien, so viel ist sicher, dürfte den heutigen vollwärmeschutzbeklebten Abschreibe-Objekten deutlich voraus sein.
Links: Produktion 1950/60er, Rechts: Mischtabaklager im Bau 1, der sogenannten Banane (1950)
Maßgeblich verantwortlich für diese einzigartige Mixtur aus Innovation, Design, Baukultur und neuester Technologie war der Architekt der Tabakfabrik, Peter Behrens. Ursprünglich Künstler und Designer, hatte sich Behrens mit der AEG-Turbinenhalle in Berlin einen Namen gemacht und auch dort das gesamte Erscheinungsbild der Firma bis hin zum Briefkopf gestaltet. In seinem Büro arbeiteten die späteren Stars der Moderne: Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe und nicht zuletzt ein junger Ehrgeizling, an den sich die Gattin von Peter Behrens noch lange erinnerte: „Da gab es diesen Schweizer, der hat sich immer so aufgeregt über den Chef!“ Der Name des aufbrausenden Eidgenossen: Le Corbusier.
In den Zwanzigerjahren kam Behrens als Professor der Wiener Akademie nach Österreich, hinterließ mit dem Franz-Domes-Hof in Margareten seine Spuren im Wiener Gemeindebau und erhielt schließlich den Auftrag der „Österreichischen Tabakregie“ für den Fa-brikneubau in Linz. Der Stahlskelettbau im Stil der Neuen Sachlichkeit mit dem unverwechselbaren skulpturalen Kraftwerk im Innenhof orientierte sich nachweislich an zeitgenössischen Vorbildern wie der Van-Nelle-Tabakfabrik in Rotterdam von Brinkman & Van der Vlugt und dem Frankfurter IG-Farben-Haus des deutschen Architekten und Malers Hans Poelzig.
Nicht zuletzt aufgrund der schwierigen finanziellen Situation während der Weltwirtschaftskrise wurde der Neubau in mehreren Abschnitten realisiert. In der ersten Bauphase ab 1928 wurde der fünfgeschoßige Tabakspeicher errichtet; zwei Jahre später der 226 Meter lange, parallel zur Baufluchtlinie sanft geschwungene Stahlskelettbau für die Zigarettenproduktion; wiederum zwei Jahre später folgte in gleicher Bauweise der 60 Meter lange und 16 Meter breite Bauteil für die Pfeifentabakerzeugung an der Unteren Donaulände.
Die Leerfläche in der Mitte des Areals zwischen diesen Bauteilen füllte schließlich das Kraftwerk mit seiner kraftvoll ausformulierten Kubatur im Wechsel von geschlossenen Putz- und Klinkerflächen und der großformatigen, fein profilierten Verglasung. Nicht nur aus der damaligen Perspektive sind die Bauteile in ihrer Durchkomponiertheit ein Erlebnis. Auch mit heutigen Augen betrachtet fasziniert die Mixtur aus klaren Linien und ausgeklügelten Details.
Links: Kesselbeschickungsanlage im Kraftwerk (1935), Rechts: Kartonpacker in der Zigarettenverpackung (1950)
Während das Linzer Gesamtkunstwerk der letzte Fabrikbau für Behrens war, stellte der Großauftrag für seinen ehemaligen Schüler an der Wiener Akademie und jetzigen Kompagnon Alexander Popp den Durchbruch dar. Auch Popp hatte sich durch Möbelentwürfe und Gewerbebauten einen Namen gemacht. Bei der Entwicklung des Corporate Designs der bis heute bekannten Mundwassermarke Odol hatte er wertvolle Erfahrungen sammeln können. So ist die Tabakfabrik nicht nur ein architektonisches Meisterstück, sondern auch Resultat einer äußerst produktiven Zeit des Übergangs. Oder, um es mit den Worten des österreichischen Schriftstellers und Architekturhistorikers Friedrich Achleitner zu sagen: „Die Tabakfabrik gehört zu den großen internationalen Leistungen des Industriebaus der Dreißigerjahre, deren Bedeutung (nicht nur für Linz) gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.“
Allerdings musste diese hohe Einschätzung erst wieder mühevoll erworben werden. Denn weder der Bau noch seine Architekten sollten in den nächsten Jahrzehnten zu Weltruhm gelangen. Peter Behrens, der 1940 in Berlin starb, geriet in der Nachkriegszeit zunächst in Vergessenheit. Sein Mitstreiter Alexander Popp, schon vor dem „Anschluss“ 1938 glühender Nationalsozialist, kam mit dem Auftrag zum Bau der Linzer Hermann-Göring-Werke im Dritten Reich zu kurzem Erfolg. Nach Kriegsende wurde er mit Berufsverbot belegt und starb 1947.
Die Architekturwelt nahm von der Tabakfabrik nicht weiter Notiz, und die Austria Tabakwerke waren wenig geneigt, sich von Bewahrern des baulichen Erbes behindern zu lassen. Sie schrieben ihre Erfolgsgeschichte weiter und erwirtschafteten zeitweise bis zu sechs Prozent des österreichischen Steuereinkommens. Für die Linzer war die „Tschickbude“, wie die Tabakfabrik bis heute genannt wird, auch in der Nachkriegszeit ein solider Arbeitsplatz mit unvermindertem Komfort.
Mit dem EU-Beitritt endete das staatliche Tabakmonopol. Schließlich folgte die vollständige Privatisierung. Im Jahre 2001 wurde die Fabrik an die britische Gallaher Group verkauft. Bald nach der Übernahme durch Japan Tobacco International wurde der Standort schließlich ganz aufgegeben – nicht zuletzt wegen der strengen Auflagen durch den Denkmalschutz, unter dem die Fabrik seit 1981 steht – sehr zum Leidwesen der unterschiedlichsten Produzenten. Mit Konsequenz: Im Jahr 2009 wurde in der Tschickbude die letzte Tschick ausgedämpft. Im unvernebelten Rückblick ist der Bau bis heute ein ebenso elegantes wie intelligentes Paradebeispiel für Innovation.
Feierabend. Eines der letzten Schattenbilder aus der Zeit der Tabakfabrikation.
Maik Novotny, geboren 1972 in Stuttgart, lebt seit 2000 in Wien. Er arbeitet als Architekt und Stadtplaner und schreibt regelmäßig in der Tageszeitung Der Standard, der Wochenzeitung Falter sowie in diversen Fachmedien über Architektur, Stadt und Design. Zuletzt erschien PPAG. Speaking Architecture (2014, mit Anna Popelka und Georg Poduschka).
Fotos: Farbe: Dietmar Tollerian. Schwarz-Weiß: Archiv Austria Tabak
Easy Rider unter Strom
Die Johammer ist auffällig, keine Frage. Das liegt zum einen am un- gewöhnlichen Design, das gewiss nicht allen gefällt, aber dafür den wenigen, die es lieben. Zum anderen aber auch am kaum vorhandenen Fahrgeräusch. Leises Surren, ab und an ein sanftes Klicken unterm Hintern, das war’s. Denn das in Bad Leonfelden produzierte Ding fährt mit Strom, mit 16 Kilowatt, um genau zu sein, und das bis zu 200 Kilometer weit.
Wir wollten wissen, wie sich einspurige Innovation anfühlt. Designstudent Jeremias Blaickner (23) und Künstlerin und Bühnenbildnerin Ulli Asamer (36) schwangen sich für uns aufs Polypropylen-Chassis und gaben ordentlich Volt. Sie haben uns zu jenen Orten geführt, die sie in Linz schätzen und lieben gelernt haben: Hafen, Lände, Tabakfabrik, Eisenbahnbrücke, Ars Electronica Center und Landstraße, wo sich in der Dämmerung auch noch ein elektrifizierender Flirt ausgegangen ist. Die Linzer Augen waren den beiden Protagonisten sicher.
Text: Wojciech Czaja
Fotos: Dietmar Tollerian
„Die Sektion Zweirad ist mein zweites Wohnzimmer“, sagt Jeremias. „In der Regel bin ich zwei- bis dreimal pro Woche hier, im hintersten Eck der Tabakfabrik, wo ich mich mit Freunden treffe und wir gemeinsam ölen, schrauben und werkstätteln.“ Privat fährt Jeremias eine Yamaha SR 500, Baujahr 1985. Wie war die elektrische Erfahrung mit der Johammer? „Leise und geschmeidig, und nach einer Stunde hatte ich die Lenkung im Griff. Ab da war’s dann super!“
„Nein, tauschen möchte ich nicht“, sagt Ulli Asamer, die privat eine Yamaha Dragstar 650, Baujahr 2000, und eine 34 Jahre alte Enduro Yamaha XT 500 fährt. „Dazu bin ich wohl zu klassisch veranlagt. Aber die Johammer ist ein lustiges und irgendwie auch sinnlich geiles Erlebnis. Jederzeit wieder!“ Ihre liebsten Linzer Ecken sind das Behrens Koch Kolektiv, wo eine Freundin von ihr kocht, und die Landzunge im Linzer Hafen, direkt neben der Donau (großes Foto). Hier findet sie, wenn sie allein herkommt, die unvergleichliche Mischung aus romantischer Natur und herbem Industrie-Chic. Und dann Vollstrom!
Im Hafen haben die beiden Johammers, Nummer 20 und 23, eine gute Figur abgebeben. Ulli auf Landpartie. Jeremias in seinem heiß geliebten „Time’s up“.
Spätestens vor dem Ars Electronica Center war es mit der beschaulichen Ruhe dahin.
Nummer 23 hat die Herzen von Ali, Sohrab, Mokhtar, Mahmoud und Mohammed erobert. Die fünf jungen Männer sind aus Kabul, Afghanistan, geflüchtet und wollen in Linz nun neu durchstarten, Probefahrt inklusive.
Eine Plastikkapsel auf Rädern. What else? Fast hätte man uns eine Tasse George Clooney angeboten, wäre da nicht die Polizei gekommen, die nicht wusste, wie sie in der Fußgängerzone vorgehen soll, weil es für einspurige Elektrofahrräder mit 130 km/h Spitzengeschwindigkeit noch keine Vorschriften gibt. Später dann haben vor dem Donut-Laden in der Landstraße die Funken gesprüht.
Heimfahrt über die Eisenbahnbrücke. „Solange es die noch gibt“, so Ulli und Jeremias. „Innovation und Neuerfindung sind gut. Aber muss man dazu wirklich Geschichte kaputtmachen?“ Nein, man kann Alt und Neu auch vereinen. Das fährt.
Wojciech Czaja
SCHICHTWECHSEL
Die Tabakfabrik der anderen
Nach der Industrie kommt die Kreativwirtschaft.
Wojciech Czaja hat sich auf die Reise gemacht – zu den Textil-,
Tapeten- und Tabakfabriken der anderen.
Nach der Industrie kommt die Kreativwirtschaft. Wojciech Czaja hat sich auf die Reise gemacht – zu den Textil-, Tapeten- und Tabakfabriken der anderen.
Blauer Himmel, Sonnenschein, ab und zu ein kleines Wölkchen nur. Es ist genau das Wetter, das die beiden Architekten Johannes Brinkman und Leendert Cornelis van der Vlugt vor Augen gehabt haben müssen, als sie die ersten Skizzen für ihren Bauherrn, den Kaffee-, Tee- und Tabakhändler Kees van der Leeuw, machten. Das Geschäft mit den Genussmitteln aus Übersee lief gut, sehr gut sogar, damals noch in der kleinen Manufaktur im Rotterdamer Leuvehaven. Die Übersiedelung und Expansion des 1782 gegründeten und überaus erfolgreichen Familienunternehmens Van Nelle war der nächste logische, unausweichliche Schritt.
Filigrane Stege. In den gläsernen Brücken konnten seinerzeit Waren in unterschiedlich fortgeschrittenen Verarbeitungszuständen von einem Gebäude ins andere transportiert werden. Die Van-Nelle-Fabrik in Rotterdam ist heute UNESCO-Weltkulturerbe und zählt zu den „25 most beautiful factories in the world“.
Brücken aus Stahl und Glas pfeifen wie schlanke, filigrane Linien durch den Innenhof, verbinden die eine gläserne Fassade mit der anderen, sorgen für vielschichtige Spiegelbilder wie in einem Kaleidoskop des baukulturellen Glücks. Die Glasscheiben scheinen von einer Zartheit, als könnte man sie mit dem nächsten Luftstoß brechen, die weiß lackierten Sprossen, die wie eine fast durchsichtige Strichmatrix im Nichts hängen, verleihen dem Gebäude eine solche Eleganz, dass die beiden Fotografen Robertson und Yerbury von einem „Gedicht aus Stahl und Glas“ sprachen. Und sogar der grimmige Le Corbusier musste bei der Fertigstellung 1931 eingestehen, es hier mit dem „schönsten Anblick der modernen Zeit“ zu tun zu haben.
Die Brücken verbinden die Schönheit mit der Nützlichkeit. Nicht für den Menschen waren die engen Stege konzipiert, sondern für die Waren in unterschiedlich fortgeschrittenen Verarbeitungszuständen. Auf den vollautomatischen Förderbändern, getragen von einem Fachwerk und eingehaust zum Schutz vor Wind und Wetter, konnten sie von einem Gebäude ins andere transportiert werden, ohne dabei den darunterliegenden Güterverkehr auf Schiene und Straße zu behindern. Das Bild der Van Nelle Fabriek ging damals um die Welt und lieferte eine fast utopische Corporate Identity, auf die wohl viele Industrielle mit Neid blickten.
„Für mich persönlich ist das einer der schönsten und magischsten Bauten, die ich kenne“, sagt die Rotterdamer Architektin und Designerin Narjara Grondman. In ihrer Freizeit bietet sie Führungen durch ihr Lieblingsgebäude an, schwärmt von der architektonischen Qualität und der technischen Detailliebe, die hier zu finden ist. „Schauen Sie sich nur einmal diese Pilzdecken an! Die Konstruktion ist so angelegt, dass die Deckenstärke auf ein Minimum reduziert werden konnte. Dadurch wiederum wurde weniger Beton verwendet, was den gesamten Aufbau noch zarter und die Räume noch höher, noch heller, noch luftiger machte.“
Auch die Anordnung der Baukörper ist kein Zufall: Jedem Produktionsschritt ist ein eigenes Stockwerk zugeordnet. Der Fertigungsprozess folgt dem Prinzip der Schwerkraft, wandert vom achten Stock allmählich bis ins Erdgeschoß hinab, wo die fertigen Zigaretten verpackt und schließlich abtransportiert wurden. Über Lüftungskanäle sind die unterschiedlichen Etagen miteinander verbunden, „denn Wärme“, mein Grondman, „wandert ja bekanntlich von unten nach oben, was nicht zuletzt der ersten Phase der Tabakproduktion, der Trocknung der Blätter, im achten Stock zugutekam.“
1990 wurde die Tabakproduktion eingestellt, 1998 kullerte dann auch die letzte Kaffeebohne über das Förderband. Der alte Charme durfte bleiben. Heute dient der denkmalgeschützte Bau als Design Factory für rund 60 Betriebe und mehr als 600 Menschen aus kreativen und weniger kreativen Branchen.
Die heiße Luft ist längst Geschichte. 1990 wurde die Tabakproduktion eingestellt, 1998 kullerte dann auch die letzte Kaffeebohne über das Förderband. Nach dreijähriger Umbau- und Sanierungszeit durch Architekt Wessel de Jonge konnte die einstige Fabrik als nunmehrige Ontwerpfabriek, als Design Factory also, ihre Pforten wieder aufsperren. Wo in Spitzenzeiten einst bis zu 2.000 Tabakarbeiterinnen im Dreischichtbetrieb tätig waren, sind heute rund 60 Betriebe, Büros und Institutionen eingemietet: Architekten und Designerinnen, Grafikstudios und Eventbüros, Rechtsanwaltskanzleien und Kommunikationsagenturen.
600 Menschen arbeiten hier insgesamt.
„Wenn Sie mich fragen“, meint Hans Baggerman, Eventorganisator und Mitarbeiter bei Van Nelle Fabriek Events, „finde ich die Offenheit und Transparenz der Räume und vor allem das viele, viele Tageslicht am faszinierendsten.“ Sein Büro befindet sich in den ehemaligen Kaffeehallen im zweiten Stock. Er war einer der Ersten im Haus, damals vor 15 Jahren, ist mitten im Renovierungsprozess eingezogen. „Wir waren zehn Leute, aufgeteilt auf 50.000 Quadratmeter. Das war schon spooky. Wer hätte gedacht, dass eines Tages ein Kreativ-Cluster daraus wird, der in ganz Europa bekannt ist?“
Die heiße Luft ist längst Geschichte.
Im Akkord (manches ist halt gleich geblieben) veranstaltet Baggerman ein Event nach dem anderen. Mal ist es die Art Rotterdam, die 25.000 Liebhaberinnen und Liebhaber zeitgenössischer Kunst in die Tabakfabrik lockt, mal ist es der Lifestyle-Flohmarkt Swan Market, mal sind es Tanz-Events, Technologiegespräche, Business-to-Business-Veranstaltungen. Kommenden Februar wird die Van Nelle Fabriek auf ihre wohl härteste Probe gestellt werden. Dann nämlich wird das Kulturdenkmal, das auf der Liste der „25 most beautiful factories in the world“ steht und seit 2014 auch UNESCO-Weltkulturerbe ist, mit dem Musikfestival ScumBash zum zweiten Mal als Bühne für Punk und Hard Rock herhalten müssen. „Ja, das geht“, meint Baggerman lakonisch. „Die Produktion von Kreativität hat eben viele Facetten.“
Wie sehr die Architektur alter aufgelassener Fabrikbauten als Inspirationsquelle und Impulsgeber wirken kann, beweist das Theater „1001 Märchen“ im siebten Stock der Dresdner Yenidze-Tabakfabrik. Unter der 20 Meter breiten und fast 18 Meter hohen smaragdgrün und rubinrot verglasten Spitzkuppel wird heute, Abend für Abend, dem Fantastischen gefrönt. Auf dem Programm stehen Der Feuervogel, Die schöne Perserin und Aladdin und die Wunderlampe. „Der Raum dafür könnte perfekter nicht sein“, meint Rainer Petrovsky, Geschäftsführer und künstlerischer Leiter. „Ich habe das Gefühl, dass Inhalt und Architektur perfekt Hand in Hand gehen. Die Atmosphäre ist umwerfend.“
Die Yenidze-Tabakfabrik, im Volksmund auch „Tabakmoschee“ genannt, wurde 1907 bis 1909 vom nur 29 Jahre alten Architekten Martin Hammitzsch konzipiert. Die ungewöhnliche Planung, die damals für einen regelrechten Skandal in der Bevölkerung sorgte und auch heute noch Autofahrer und Passantinnen irritiert, die meinen, es handle sich um ein bislang unentdecktes Gebetshaus für Moslems, hatte einen guten Grund: Die Bauvorschriften um die Jahrhundertwende waren streng. Unter anderem gab es die Verordnung, dass im Dresdner Stadtzentrum keine als solche erkennbaren Fabrikgebäude errichtet werden durften.
Also ließ der Zigarettenfabrikant aus der Not eine bauliche Tugend machen, tarnte seine Fabrik als orientalisch-maurischen Bau mit Jugendstilelementen und nannte das prächtige Resultat in Anlehnung an sein Anbaugebiet im Osmanischen Reich, dem heutigen Nordgriechenland, „Yenidze“. Die Tabakmoschee mit ihrem Schornstein in Form eines Minaretts wurde nicht nur zum Logo auf den Päckchen der Zigarettenmarke „Salem“, sondern auch zum verhasstesten, wiewohl meistdiskutierten Bauwerk Dresdens. Der Coup war perfekt, der Werbefaktor seines architektonischen Monuments an der Hauptstrecke der Eisenbahnlinie Berlin–Prag schier unbezahlbar.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Yenidze zum Teil schwer zerstört und musste zu DDR-Zeiten wiederaufgebaut werden. Nach vielen Produktionspausen und geschäftlichen Intermezzi stellte man den Betrieb nach der Wiedervereinigung Deutschlands ein. 1997 wurde das Gebäude nach umfassenden Sanierungsarbeiten als Bürohaus wiedereröffnet. Schade, dass sich neben dem Theater und dem Restaurant keine öffentlichen, ja nicht einmal kreativwirtschaftliche Nutzungen in der alten Yenidze befinden. Die Aura alter Zeiten, scheint es, wurde eingemauert und sorgfältig verputzt. Hoffnung macht just eine Baustelle im Erdgeschoß. Wo früher die Lastwagen andockten, um die fertig verpackten Zigaretten aufzuladen, entsteht nun ein türkisches Bad, ein Hamam.
Die 1909 errichtete Yenidze-Tabakfabrik in Dresden ist ein Traum aus 1001 Nacht. Die Bauvorschriften damals sahen vor, dass Fabrikgebäude im Stadtzentrum getarnt werden müssen.
Eine gute Stunde Autofahrt von Dresden entfernt liegt Leipzig, das im Zuge der Industrialisierung zu einem Zentrum der Stahl-, Papier- und Textilindustrie geworden war. Einer der schönsten Zeitzeugen dieser Ära ist die 1884 gegründete Baumwollspinnerei im Stadtteil Lindenau, die in ihrer Hochblüte die größte Spinnerei ihrer Art in ganz Europa war. Bis zu 4.000 Menschen haben hier bis 1989 im Dreischichtbetrieb gearbeitet. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde die Produktion eingestellt. 10.000 Quadratmeter Fläche wurden auf einen Schlag leer.
Die Ziegelfassaden sind in ihrer Abgefucktheit erhalten geblieben, aus den Ritzen im Kopfsteinpflaster bahnen sich immer wieder mit aller Kraft Blumen und Unkraut ihren Weg, auf einer der Brücken über den alten Gleisen ist irgendwo noch die alte Fabrikuhr zu sehen. Zehn nach zehn. Die Zeit ist stehen geblieben.
„Ich bin seit 2009 auf dem Gelände, da war die Produktion der Kreativwirtschaft, wenn man das so sagen kann, schon voll im Gange“, sagt Inga Kerber. „Die Atmosphäre hier in der Spinnerei hat mich vom ersten Tag an fasziniert.“ Die 33-jährige Fotokünstlerin mietet ein fast 70 Quadratmeter großes Atelier. Die enorme Raumhöhe erleichtert ihr das Hantieren mit ihren teils großformatigen Arbeiten. Der gebastelte Charme des Ortes kommt ihrem Charakter sehr entgegen. In gewisser Weise, meint sie, sei das Areal ein ostdeutsches Vermächtnis.
„Die Menschen in der DDR haben es verstanden, aus Altem etwas Neues zu machen und die Dinge zu reparieren und weiterzunutzen, anstatt sie wegzuschmeißen und dafür einen Ersatz zu kaufen. Dieser Geist lebt in der Spinnerei fort. In jeder anderen Stadt in Europa wäre ein solches Fabrikgelände längst gentrifiziert und auf Hochglanz poliert worden. Doch davon sind wir hier zum Glück meilenweit entfernt.“ Kurze Pause, nachdenklicher Blick, tiefer Atemzug. „Weißt du, ich habe nichts gegen neu. Aber es muss immer auch ein bisschen alt bleiben. Sonst ist es kaputt.“
Bis 1989 haben in der Leipziger Baumwollspinnerei rund 4.000 Menschen gearbeitet. Heute beheimatet das nur sporadisch sanierte Fabrikareal Werkstätten, Ateliers, Studios, Galerien und viele Handwerksbetriebe. Im ehemaligen Waschraum ist heute das Hotel „Meisterzimmer“ untergebracht.
Heute dient das zehn Hektar große Areal als Kreativ-Cluster mit mehr als hundert Betrieben und Institutionen – mit Ausstellungshallen, Galerien, Architekturbüros, Designstudios, Modeateliers, Keramikwerkstatt, Porzellanmanufaktur, Kampfsportstudio, Bogenschützenverein, Hutmacherei und vielen Ein-Mann-Handwerksbetrieben. Manfred Mülhaupt, seines Zeichens Künstler, Grafiker und Webdesigner, betreibt in den alten Räumlichkeiten sogar ein kleines Readymade-Hotel namens „Meisterzimmer“ (Gebäude 18, erste Etage, Arbeitsraum Südwest, man träumt von Garn und Spinnereien).
„Wir sind seit 2005 hier, und ich muss gestehen, dass wir zu Beginn etwas skeptisch waren“, erzählt Elke Hannemann, Standortleiterin der Galerie Eigen+Art, Halle 5. Zu Spinnereizeiten waren hier die Dampfmaschinen untergebracht, später wurde der lange Bau mit seinem charakteristischen Spitzdach als Tischlerei genutzt. Es sind schöne, ehrliche Räume mit dramatischem Eisengebälk. Insgesamt vertritt Eigen+Art 25 Künstlerinnen und Künstler, national und international, darunter auch den mittlerweile weltbekannten Leipziger Maler Neo Rauch. „Der Schritt in die Spinnerei hat sich gelohnt. Mittlerweile gibt es ein Dutzend Galerien und Kunst-institutionen hier. Und sogar Touristen kommen bereits gezielt, um uns zu besuchen.“
In ausrangierten Londoner Doppeldeckerbussen werden sie oft hordenweise aus der fünf Kilometer entfernten Innenstadt hergekarrt, um mit eigenen Augen zu sehen, wo die Creative Industrials zu Hause sind. Meist drehen sie eine Runde durch das Kulturzentrum Halle 14, fallen in den Merchandising-Shop ein und bestellen nach vollbrachter Besichtigungstat einen Latte macchiato im Sonnenschein, dazu ein Croissant und ein Hallöchen aus der Ferne zu einem der gerade am Café vorbeiradelnden Mieter. Die Spinnerei hat’s geschafft.
Auch das nur wenige Straßenblocks entfernte, 1873 gegründete Tapetenwerk ist heute Heimat für Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft. 45 Betriebe, die meisten davon EPUs, sind hier eingemietet. Der Fokus richtet sich auf kreative Berufe im Handwerks- und Dienstleistungsbereich: Architektin, Schuhmacherin, Buchbinder, Keramikkünstler, Longboard-Fabrikant. Letzterer, Sebastian Mühlbauer, exportiert seine Produkte sogar bis nach Südkorea. Die Zeit der Fa-brikmaschinen sei vorbei, hieß es unlängst in einem Bericht über das Tapetenwerk im Reisemagazin Merian. Erfolg werde wieder von Hand gemacht.
Im Leipziger Tapetenwerk sind heute 45 Manufakturen und Kreativbetriebe eingemietet. Und ja, manchmal verirren sich auch 26 Jahre nach der Schließung noch Menschen hierher, um eine Tapete fürs Wohnzimmer zu ergattern.
„Bis 2006 wurden hier tatsächlich noch Güter produziert“, erinnert sich Jana Reichenbach-Behnisch. „Allerdings längst nicht mehr Tapeten, sondern Platzdeckchen für internationale Fluggesellschaften. An manchen Tagen kommen immer noch Leipziger vorbei, auf der Suche nach neuen Tapeten für ihre Wohnung, und wundern sich darüber, was sie hier vorfinden.“ Den Zustand wolle man bewusst so beibehalten, wie er ist, sagt die 50-jährige Architektin und Eigentümerin, die mit ihrem Mann Heiko Behnisch das hier angesiedelte Büro rb architekten betreibt. „Wir können und wollen nicht umbauen. Wir haben finanzielle Grenzen. Doch dafür beträgt die Miete im Tapetenwerk auch nur 50 Prozent der Leipziger Durchschnittsmiete.“
Postindustrialismus als Chance
Schon vor 2007 beschäftigte sich die gebürtige Leipzigerin immer wieder mit städtischem Leerstand, mit alten Industriebrachen, sogenannten Brownfields, wie man im Immobilienjargon sagt, mit in Vergessenheit geratenen Arealen und ihren Potenzialen. „Der Schritt von der praktizierenden Architektin zur Immobilienkäuferin ist ja nicht immer so glasklar vorgezeichnet. Ich mag meinen Beruf. Ich denke, ich bin eine Ermöglicherin.“
Es gibt Sargfabriken, Brotfabriken und Schraubenfabriken, es gibt die ufaFabrik in Berlin, die Munitionsfabrik in Hamburg, das Melkweg in Amsterdam, es gib die LX Factory in Lissabon, das DEPO im tschechischen Pilsen und die riesige bezirksgroße 798 Art Zone in Peking. Hinzu kommen Dutzende und Aberhunderte revitalisierte, umgenutzte Fabrikareale in den USA, hier vor allem im aussterbenden Manufacturing Belt rund um Pittsburgh, Cleveland und Detroit. Man kann viel voneinander lernen, von den vielen unterschiedlichen Re-Interpretationen von Industrie, von der so vielfältigen Chancennutzung des Vergangenen, letztendlich auch von den Fehlern der mitunter überschnellen Erneuerung.
In jedem Ende liegt, frei nach dem spanischen Philosophen Miguel de Una-muno y Jugo, ein neuer Anfang. Und vielleicht zeigt sich dieser nirgendwo schöner als im Sittertal im ostschweizerischen St. Gallen. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde hier eine Maschinenfabrik errichtet, wenig später wurde das Areal zu einer Textilfärberei umgebaut. Die Lage unten im Tal, nur wenige Schritte von der Sitter entfernt, schien für das wasserintensive Gewerbe wie gemacht. In den Achtzigerjahren wurde die in die Jahre gekommene Färberei Sittertal mit 170 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und tiefroten Zahlen geschlossen.
Einst ging es in der Textilfärberei Sittertal in St. Gallen bunt zu. Das tut es auch heute noch, nur anders. In der Stiftung Sitterwerk kann man sich im Werkstoffarchiv und in der Kunstbibliothek einlesen und fortbilden. In der Kunstgießerei geht es etwas heißer her.
Der Architekt und heutige Grundstückseigentümer Hans Jörg Schmid verwandelte das zwischenzeitlich schon als Diskothek und Paintball-Field verwendete Areal in einen Cluster mit teils handwerklichem, teil künstlerischem Gewerbe. Aus der Zusammenarbeit zwischen den ersten hier angesiedelten Betrieben und Institutionen, letztendlich auch aus den Aktivitäten der Kunstgießerei entwickelte sich die gemeinnützige Stiftung Sitterwerk. Sie umfasst Gastateliers, Ausstellungs- halle, Werkstoffarchiv und Kunstbibliothek (30.000 Bücher) und befasst sich mit Forschungsprojekten im Bereich Werkstoffentwicklung, Wissensvermittlung und Know-how-Archivierung.
Es braucht den Mix aus Kunst und Alltag.
„Die Entwicklung des Sitterwerks ist eine sehr spannende“, sagt Felix Lehner. „Erstens ist die Lage hier am Wasser einzigartig, zweitens finde ich die Architektur der Bauten sehr authentisch, weil sie aus der Notwendigkeit der Arbeitsprozesse heraus entstanden ist, und drittens haben wir in der ehemaligen Färberei einen sehr spannenden Mietermix.“ Dieser reicht von kreativen Dienstleistungen im Bereich Architektur, Grafik und Design über Gärtnerei und Werkstatt bis hin zu produzierendem Gewerbe. Lehner selbst betreibt seit 1993 eine Kunstgießerei. Zu seinen Kunden zählen Künstler wie etwa Sean Scully, Paul McCarthy, Bethan Huws, Elmgreen & Dragset, Urs Fischer, Rudolf Stingel und Fischli/Weiss. Die Liste der großen Namen, die auf die Expertise des 55-Jährigen zurückgreifen, ließe sich endlos fortsetzen.
Es ist heiß hier. Eine Bronzeskulptur härtet gerade aus. Das wird noch einige Tage dauern. Je langsamer, desto besser, sagt Lehner. Was für ein gleichsam wertvolles Motto für das Modell Kreativfabrik. „Im Sittertal gibt es nicht nur Kultur- und Handwerksbetriebe, sondern auch eine Fleischerei, die die Großgas-tronomie beliefert, das riecht manchmal ein bisschen, oder etwa das Resozialisierungsprojekt Dock.“ In diesem finden Menschen am zweiten und dritten Arbeitsmarkt einen Job, nähen, sägen, schweißen, bauen Unikate und diverse Accessoires aus Recycling-Materialien.
Arbeit am Negativ: In der Kunstgießerei Sitterwerk werden Gussformen und Skulpturen für Sean Scully, Bethan Huws und Fischli/Weiss hergestellt. „Kunst und Kultur sind etwas Wunderbares“, sagt Kunstgießer Felix Lehner. „Aber es braucht auch diesen Hauch ganz alltäglicher Trivialität.“
„Kunst und Kultur, das ist etwas Wunderbares, und ich fühle mich in diesem Bereich zu Hause“, sagt Felix Lehner. „Aber nur das wäre an so einem Standort zu elitär. Es braucht diese gewisse Mischung, wo bisweilen nichts zusammenpasst, es braucht diesen Hauch sozialen Zusammenseins und ganz alltäglicher Trivialität. So, wie das halt immer schon war.“ In einer Fabrik, auch in einer Krea-tivfabrik, kann man alles produzieren. Nur nicht den unwiederbringlichen Wert von Geschichte und Identität.
Wojciech Czaja, geboren 1978 in Polen, ist freischaffender Journalist für Tageszeitungen und Fachmagazine, unter anderem für Der Standard. Er ist Autor zahlreicher Wohn- und Architekturbücher. Er konzipiert gerne Zeitschriften und ist bekennender Reise-Junkie. Seit 2011 ist er Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst in Wien, seit 2015 Dozent an der Kunstuniversität Linz.
Fotos: Daarzijn Rotterdam Image Bank, Van Nelle Fabriek, Kolossos, Andreas Schmidt, Wojciech Czaja, Tapetenwerk / Wolfgang Schneider, Tapetenwerk / Kirsten Nijhof, Sitterwerk, Kunstgiesserei
Was können wir tun, damit der technische Fortschritt
der Gesellschaft nützt und nicht schadet?
Wir suchen nach Ideen, nach Impulsen, nach Innovationen,
die sich mit der Zukunft von Arbeitsmarkt und Industrie befassen.
Die beste Idee dieses internationalen Calls unter der Patenschaft
von Saskia Sassen wird von einer Jury ausgewählt. Der Gewinner
bzw. die Gewinnerin erhält ein mietfreies Büro in der
Tabakfabrik Linz – und zwar auf Lebenszeit. zum Wettbewerb